Zweieinhalb Jahr in einer Höhle im Wald

Dina Dor-Kasten erzählt die erschütternde Überlebensgeschichte einer jüdischen Familie in der NS-okkupierten Ukraine

  • Ernst Reuß
  • Lesedauer: 3 Min.

Wir zitterten und ängstigten uns vor den Deutschen, waren Opfer der Wut der Ukrainer, die sich in tiefem Judenhaß äußerte. Die Nazis ermunterten sie zu ihren Grausamkeiten. Die Hände, mit denen uns die Ukrainer misshandelten, hatten wir früher geschüttelt, wenn wir uns schöne Feiertage wünschten oder uns begrüßten.« Dies berichtet Lina-Liba Kasten, eine Holocaust-Überlebende.

Tochter Dina hat deren Geschichte aufgeschrieben. Gut, dass auch auf dem deutschen Buchmarkt eine Übersetzung aus dem Hebräischen erschienen ist. Das Buch erinnert an die leidvolle Geschichte der Juden zwischen Ostsee und Schwarzem Meer in den Jahren 1941 bis 1944 unter deutscher Okkupation. Über zwei Millionen Menschen wurden Opfer von Massenerschießungen durch Einsatzgruppen der Wehrmacht und der SS sowie einheimischer Kollaborateure. Laut einer Ausstellung in der Topographie des Terrors in Berlin gab es mindestens 722 Orte, an denen jeweils mehr als 500 Menschen ermordet wurden. Dennoch ist die Geschichte der Familie Kasten, aufgrund der außergewöhnlichen Umstände ihres Überlebens, eine besondere Geschichte.

Die Kastens hatten ihr galizisches Heimatdorf verlassen müssen, sind in ein Ghetto getrieben worden, das die deutschen Aggressoren kurz nach ihrem Überfall auf die Sowjetunin in dem ukrainischen Ort Rohatyn eingerichtet hatten. Das zwei Monate altes Baby der Kastens, das sie Munja genannt hatten, wurde ihnen bei einer »Kinderaktion« genommen. Danach sollte die ganze Familie ausgelöscht werden. Es war wieder einmal eine Massenerschießung angesetzt. Jossel Kasten und seine Frau Lina-Liba gelang es jedoch - ein unglaubliches Wunder - mit den ihnen gebliebenen Kindern Schmulik und Dina unbemerkt zu fliehen. Die vier versteckten sich zweieinhalb Jahre lang in einer mit den bloßen Händen gegrabenen Höhle im Wald. Zweieinhalb Jahre ständig in Angst vor Entdeckung, zweieinhalb Jahre unter menschenunwürdigen Bedingungen, wie Tiere zu hausen und sich zu ernähren - wer kann sich heute noch vorstellen, was das bedeutet?!

Selbst als die Familie dann im August 1944 von sowjetischen Soldaten aus ihrem Erdloch befreit wurde, war die Gefahr nicht ganz vorbei. Denn es lebten in der Ukraine ja noch so viele, die mit den deutschen Faschisten gemeinsame Sache gemacht hatten und der befürchteten Rache der von ihnen Enteigneten, in die Ghettos, zu den Hinrichtungsstätten oder in Vernichtungslager deportierten Juden vorzubeugen versuchten. So mancher glücklich Gerettete starb noch nach der Befreiung. Jossel und Lina-Liba Kasten, die - bis auf eine Cousine - alle Angehörigen im Holocaust verloren hatten, fühlten sich mit ihren Kindern weder in der Ukraine noch in Polen sicher. Sie spürten erneut Antisemitismus am eigenen Leib. Daher emigrierte die inzwischen siebenköpfige Familie im Oktober 1948 nach Israel. Ein erschütternder Bericht aus einer Zeit, die noch nicht allzu lange her scheint angesichts neuerlichen Antisemitismus und rechtsradikaler Umtriebe.

Dina Dor-Kasten: Versteckt unter der Erde. Die Überlebensgeschichte der Familie Kasten. Metropol-Verlag. 200 S., br., 16 €.

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