Es gibt eine andere Türkei
Yücel Özdemir über jene Menschen, die dem Erdoğan-Regime die Stirn bieten – aber in Europa oft übersehen werden
Der deutsche Fokus beim Blick auf die Türkei liegt in erster Linie auf Staatspräsident Erdoğan, der Partei für Entwicklung und Gerechtigkeit (AKP) und dem nationalistischen Konservatismus und Autoritarismus, den sie vertreten. Aufgrund der Entwicklungen der letzten Jahre hat sich die Wahrnehmung verbreitet, dass die »Türkei gleich Erdoğan« sei. Dafür gibt es gute Gründe.
Das Verfassungsreferendum vom 16. April dieses Jahres, beim dem es – mithilfe von Wahlbetrug – eine »Ja«-Mehrheit gab, hat diese Wahrnehmung verstärkt. Dass die eine Hälfte der Türkei das von Erdoğan gewünschte Ein-Mann-Regime unterstützt, hat uns alle zurecht erschreckt. Die andere Hälfte der Türkei aber, die gegen das autoritäre Regime ist, wurde nicht gesehen. Oder sie wurde nur sehr selten wahrgenommen.
Yücel Özdemir wurde 1968 in der türkischen Stadt Varto geboren. Er lebt mit seiner Familie in Köln.
Neben seinem Mathematikstudium an der Universität Istanbul war Özdemir verantwortlicher Redakteur der linken Wochenzeitschrift "Gerçek" (Realität), der Vorläuferin der Tageszeitung "Evrensel". Nach der Veröffentlichung eines geheimen Militärprotokolls, in dem es um die Bespitzelung von Kurden, Aleviten und Linken ging, machte ihm die türkische Justiz den Prozess wegen „Landesverrats“. Er flüchtete im August 1993 nach Deutschland. Seit Jahren schreibt Özdemir für "Evrensel" Berichte und Kolumnen aus Deutschland. Er gehört zu den 50 Journalisten, die beim NSU-Prozess einen ständigen Beobachterplatz erhalten haben und teilt seinen Platz mit "neues deutschland".
Dabei hat das Referendum gleichzeitig eben auch gezeigt, dass es eine andere Türkei gibt und die Hälfte der Menschen in Opposition zu Erdoğan steht. Und dies trotz des gleichzeitig enormen Drucks, der Angriffe und der vielen Hindernisse. Dieser andere Teil der Türkei bringt noch immer in allen Bereichen des Lebens seine Ablehnung gegenüber dem Regime zum Ausdruck.
Die Kolumne von Yücel Özdemir in türkischer Fassung: Başka bir Türkiye var
Mit dem 24-tägigen »Gerechtigkeitsmarsch« von Ankara nach Istanbul hat die größte Oppositionspartei CHP (Republikanische Volkspartei) zwei Monate nach dem Referendum die Angststarre gelöst und gezeigt, dass außerparlamentarischer Widerstand der einzige Weg ist.
Gleichzeitig bereitete dieser Marsch auch die Grundlage dafür, die verschiedenen Gruppen der Opposition (Kemalisten, Kurden und andere linke Kräfte), die sonst nicht zusammenkommen, zusammenzubringen. Diese Annäherung setzte sich in den von der linken, prokurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) initiierten »Mahnwachen für Gewissen und Gerechtigkeit« fort. Die Tatsache, dass die CHP die HDP nicht offiziell zu ihrem »Gerechtigkeitskongress« Ende August eingeladen hat, hat die entstandene positive Stimmung zwar wieder etwas gedämpft. Dennoch arbeitet jede Partei weiter an einer Opposition gegen Erdoğan.
Obwohl die Presse momentan die dunkelste Zeit in der Geschichte der Türkei erlebt, schreiben die wenigen verbliebenen freien Zeitungen und Journalisten weiter. Die »Akademiker für den Frieden«, die für die Unterzeichnung einer Friedenserklärung entlassen wurden, kämpfen nun auch außerhalb der Universitäten. Obwohl unter den Notstandsgesetzen das Streikrecht ausgehebelt wurde, treten Arbeitnehmer trotzdem in Streiks. Und viele Frauen, denen mittelalterlichen Verhältnisse aufgezwungen werden sollen, wollen sich Erdoğan nicht ergeben und sind in jedem Bereich des Widerstands gegen das Regime beteiligt. Meist an vorderster Front.
Aus all diesen Gründen gibt es auch diese andere Türkei. Je stärker sie wird, desto mehr wachsen Erdoğans Ängste und je größer seine Ängste werden, desto mehr verstärkt er den Druck. Er ist nicht so stark, wie Sie denken. Das Regime ist seit langem vielmehr ein Papiertiger.
Erdoğans wahre Macht resultiert daraus, dass er die Menschen, die mehrheitlich dem sunnitischen Islam angehören, hinter sich sammelt. Da es keine anderen Parteien gibt, die einen Teil dieser Mehrheit repräsentieren, kann er sich auf diesen Block verlassen. Allerdings: Viele vermuten, dass die neue Mitte-Rechts-Partei, die von Abtrünnigen der MHP (Partei der nationalistischen Bewegung) im Oktober gegründet werden soll, eine Spaltung in dem genannten Block herbeiführen könnte. Es ist kein Geheimnis, dass Erdoğan daher mit allen Mitteln verhindern will, dass diese Partei stark wird.
Leider setzt sich in der Türkei eine politische Spaltung, die nicht auf sozialen Fragen, sondern auf religiösen Zugehörigkeiten und ethnischer Herkunft basiert, fort. Die Machthaber bemühen sich seit Jahrhunderten, diesen Zustand zu erhalten. Fortschrittliche Kräfte, die eine Einheit jenseits religiöser und ethnischer Zugehörigkeiten anstrebten, wurden immer wieder unterdrückt und verfolgt. Jeder Militärputsch diente dazu, linke Kräfte zu vernichten, um rechte, reaktionäre Kräfte zu stärken.
Trotz alledem wurde der Einsatz für und die Hoffnung auf die »sonnigen und schönen Tage«, die der bekannte linke Dichter Nâzım Hikmet besungen hat, nie aufgegeben.
Und nun braut sich erneut Widerstand gegen das autoritäre Regime zusammen – in der »anderen Türkei«.
Aus dem Türkischen von Nelli Tügel
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