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»Wir brauchen eine fünfte Internationale«
Ökonom Samir Amin sieht den Kapitalismus an sein historisches Ende gekommen
Können Sie sich mit Ihren mittlerweile 86 Jahren noch an neue Technologien gewöhnen?
Ich schreibe E-Mails, aber die Benutzung von Smartphones ist mir zu kompliziert.
Was denken Sie dann über diese technologischen Erneuerungen - verändern sie die Welt?
Solche Erfindungen sind wichtig, aber es wurden immer schon Sachen erfunden. Das sollte man in der gegenwärtigen Diskussion im Kopf behalten. Deswegen glaube ich auch nicht, dass die Digitalisierung das wichtigste Charakteristikum der heutigen Zeit ist.
Samir Amin ist einer der bedeutendsten Theoretiker und bekanntesten linken Intellektuellen. Der gebürtige Ägypter lebt in Dakar im Senegal und leitet dort das Third World Forum. Der Ökonom wendet sich gegen die Sichtweise, dass die kapitalistische Moderne ihre Wurzeln allein in Europa hat, und kritisiert die imperialistische Ausbeutung des globalen Südens. Der Ökonom und Marxist gilt neben anderen als Begründer der Dependenz- und Weltsystemtheorie. Über das lange Ende des Kapitalismus sprach Simon Poelchau mit Amin.
Sie würden also nicht dem Journalisten Paul Mason zustimmen, der meint, dass die Digitalisierung das Ende des Kapitalismus einleitet?
Nein. Das ist eine Vereinfachung. Mit neuen Technologien fängt nichts an und hört nichts auf. Stattdessen ist der Kapitalismus an sich in eine neue Phase eingetreten. Und vielleicht ist es sogar, wie Lenin es einst formulierte, seine letzte Phase.
Seit wann leben wir in dieser letzten Phase des Kapitalismus - seit dem Ausbruch der Finanzkrise 2007?
Es fing schon viel früher an. Und zwar in den 1970er Jahren mit dem Ende des Bretton-Woods-Systems und der Entkopplung des Dollars vom Gold. Bis 1990 kam es daraufhin zu wesentlichen Veränderungen der Organisierung des Kapitalismus. Die Koexistenz der drei Systeme - der westlichen Sozialdemokratie, des Kommunismus und der blockfreien Staaten - kam da an ihr Ende.
Was bedeutet dies für die Gesellschaften, in der wir leben?
Alles ist dem Monopolkapital untergeordnet. Und zwar nicht nur in den alten Industriestaaten, sondern auch im globalen Süden. Dies bedeutet eine Proletarisierung und Fragmentarisierung der Arbeit - international und auf allen Ebenen. Mit einer immer kleiner werdenden, einigermaßen abgesicherten Kernarbeiterschaft und mit einer immer größer werdenden Mehrheit von Prekarisierten.
Inwiefern?
Nehmen wir die Agrarindustrie: Die Kleinbauern sind jetzt überall auf der Erde von den großen Konzernen abhängig, die ihnen Dünger und Samen verkaufen und sie so an sich binden. Sie sind quasi zu Subunternehmern des Monopolkapitals geworden.
Ist dies im Grunde nicht auch eine Gefahr für die bürgerliche Demokratie?
Ja. Die bürgerliche Demokratie bewegt sich immer mehr hin zu einem Ein-Parteien-System. Egal ob Konservative, Liberale oder Sozialdemokratie - alle traditionellen Parteien unterscheiden sich letztlich nicht mehr wirklich voneinander. Wo ist zum Beispiel der Unterschied zwischen den Demokraten und den Republikanern in den USA? Alle diese Parteien akzeptieren die gleichen Regeln, nämlich die des Finanzkapitals. Aber auch international gibt es keine Konkurrenz mehr.
Ist der Imperialismus abgeschafft?
Wir leben heute in einer Phase, die Karl Kautsky vor 100 Jahren als Hyperimperialismus beschrieben hatte. Dafür wurde er damals von Lenin angegriffen, doch heute stimmt seine Theorie.
Es gibt keine Konkurrenz mehr zwischen den Staaten?
Es gibt zwar bis zu einem gewissen Grad einige Ausnahmen wie Kuba, Russland, China und Vietnam, doch im Grunde akzeptieren heutzutage alle die Aufteilung der Welt, so wie sie ist. Bis zum Zweiten Weltkrieg war es anders. Da gab es nicht den einen Imperialismus, sondern zum Beispiel den deutschen, englischen, US-amerikanischen oder französischen Imperialismus. Doch nun sind sich die herrschenden Klassen rund um den Globus im Grunde einig, wie das System laufen soll.
Zum Leidwesen der Mehrheit.
Das kapitalistische System fußt auf einem wahnsinnigen Wachstum der Ungleichheit. Sowohl auf globalem Level als auch innerhalb der einzelnen Staaten. Dies betrifft auch den reichen Westen und bedeutet wachsende Unsicherheit, Arbeitslosigkeit und Armut. Und das System wird immer zerstörerischer, weil es sich nicht mehr ausdehnen kann. Hinsichtlich der Zerstörung der Natur sind wir da schon an einem sehr gefährlichen Punkt angekommen.
Denken Sie, dass sich das System dann von allein zerstört, weil etwa die Profitraten fallen?
Die Maßnahmen und Strategien, die gegen den tendenziellen Fall der Profitrate eingesetzt werden, waren aus Sicht des Kapitals recht erfolgreich: Sie sichern dem Kapital mit Hilfe von Proletarisierung, Unterordnung sowie Überausbeutung von Mensch, Natur und ganzen Staaten hohe Gewinne. Trotzdem ist der Kapitalismus historisch gesehen an sein Ende gekommen. Und es gibt niemanden, der weiß, wie man damit umgehen soll.
Wie lange geben Sie dem Kapitalismus dann noch?
Es ist wie mit dem Ende des Römischen Reiches - nach nur einer kurzen Phase der Blüte kam es da zu einer zehn Jahrhunderte langen Phase der Dekadenz. Doch heute ist die Lage noch dramatischer. Es gibt genügend Atombomben, um die Menschheit zigmal auslöschen zu können. Insofern hatte Putin recht, als er einmal auf die Frage, ob Russland einen Atomkrieg gewinnen würde, antwortete: »Niemand wird ihn gewinnen. Wir werden alle verschwinden.«
So pessimistisch?
Alle Strategien, die derzeit angewendet werden, haben nichts Vorwärtsweisendes. Sie sind rein defensive und hilflose Reaktionen auf den Zerfall. Am Ende werden wir vor der Alternative »Sozialismus oder Barbarei« stehen, wie es Rosa Luxemburg einst formulierte.
Sie ist nach Karl Kautsky die zweite Marxistin, die sie erwähnen und die vor rund 100 Jahren wirkte.
Rosa Luxemburg war ihrer Zeit weit voraus. Vor 100 Jahren hat man an ihren Worten vielleicht noch zweifeln und sagen können: »Der Weltkrieg war schlimm, jetzt ist er aber zu Ende und die Geschichte geht weiter.« Doch dies geht heutzutage nicht mehr. Das Zerstörerische am Kapitalismus ist unübersehbar geworden und deswegen brauchen wir eine positive Alternative zum Bestehenden!
Und das ist der Sozialismus?
Als bloße theoretische Alternative reicht er nicht aus. Wir müssen wissen, wie wir dorthin kommen. Wir werden nicht innerhalb von 24 Stunden das Paradies auf Erden schaffen können. Wir brauchen eine Strategie, wie wir über viele verschiedene Etappen dorthin kommen. Und diese Etappen werden in Deutschland und Zentralafrika sehr unterschiedlich sein. Letztlich bedeutet das, dass wir eine neue, eine fünfte Internationale brauchen.
Warum?
Weil es ein Revival des politischen Marxismus, des Internationalismus braucht. Und die Geschichte der Internationalen ist trotz ihrer Widersprüchlichkeiten Teil einer gemeinsamen Geschichte. Dabei geht es nicht darum, alte Strukturen wieder aufzubauen, sondern sich wieder an alten Zielen zu orientieren. Wir müssen gleichzeitig erfinderisch sein, um den Problemen begegnen zu können, denen die arbeitenden Menschen überall auf der Welt ausgesetzt sind. Und damit meine ich nicht allein die Arbeiterschaft in Europa oder den USA, sondern auch die Arbeiterschaft in Venezuela, Ägypten oder anderswo.
Hört sich nach einem langwierigen, globalen Projekt an.
Die kapitalistische Moderne ist auch nicht allein mit der Industrialisierung in Europa entstanden. Die Entwicklung fing viel früher und zwar in China an. Sie kam zunächst über die italienischen Stadtstaaten nach Westeuropa. Erst danach kam es zur industriellen Revolution in England und zur politischen in Frankreich, die die moderne bürgerliche Demokratie erschuf.
Gibt es letztlich nicht auch ein Licht am Ende des Tunnels?
Ja. Aber nur, wenn wir es schaffen, über bloßen Protest und Widerstand hinaus zu kommen. Wir müssen unsere Kämpfe organisieren, eine positive Alternative schaffen und vor allem einige wichtige Lehren aus der Geschichte im Kopf behalten. Etwa, dass man der Rolle von Anführern gegenüber immer skeptisch sein sollte. So ist die Russische Revolution nicht von Lenin geschaffen worden, sondern die Russische Revolution hat Lenin hervorgebracht.
Lehnen Sie also die Idee ab, dass es eine politische Avantgarde braucht?
Natürlich entstehen durch Kämpfe in gewisser Weise immer auch hierarchische Strukturen mit Anführern an der Spitze. Doch häufig ist dies sehr zweischneidig. Diese Personen sind oft revolutionäre Anführer und Opportunisten zugleich. Martin Luther, der sich letztlich mit den Fürsten arrangierte, ist da ein anderes gutes Beispiel. Deswegen geht es jetzt darum, Debatten, Strategien, Aktionen und Organisationen zu entwickeln, um es besser zu machen.
Könnten die neuen Technologien da nicht auch helfen?
Natürlich. Aber diese Technologien sind vor allem erfunden wurden, um nützlich fürs System zu sein. Mit dem Smartphone zum Beispiel kann der Chef einen selbst im Urlaub erreichen. Man kann es aber auch dazu benutzen, um eine Demonstration zu organisieren.
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