Abgefahren: Gerechte Löhne für Zugewanderte

Stephan Lessenich stellt fest, dass die sozialdemokratischen Zusagen für Deutschland nur Deutschen zusagen

  • Stephan Lessenich
  • Lesedauer: 9 Min.

Rechtzeitig zum Ende des Bundestagswahlkampfs hat Martin Schulz gezeigt, dass er es tatsächlich ernst meint mit seinem unmissverständlichen Einsatz für soziale Gerechtigkeit. In ganzseitigen Anzeigen in den überregionalen Zeitungen der Republik ließ der vermeintliche Kanzlerkandidat der SPD dem Wahlvolk mitteilen, dass es mit ihm einige »unverhandelbare« Bedingungen geben werde, um sich auch in der nächsten Runde wieder als Juniorpartner einer Großen Koalition zur Verfügung zu stellen.

Die fünf Punkte, die man da schwarz auf weiß zu Lesen bekam, lassen sich wohl mit Fug und Recht als das gerechtigkeitspolitische Credo nicht nur aufrechter Sozialdemokrat*innen, sondern insgesamt des irgendwie linksbürgerlich-progressiven Milieus dieser Republik deuten. Als da wären: für Männer und Frauen – weiter differenziert man geschlechterpolitisch im Willy-Brandt-Haus einstweilen nicht – das gleiche Geld bei gleicher Arbeit; das Ende der willkürlichen Befristung von Arbeitsverträgen und ein Rückkehrrecht von Teilzeit in Vollzeit; sichere Altersrenten und keine weitere Absenkung des Rentenniveaus (natürlich bei stabilen Beitragssätzen); schließlich die flächendeckende Abschaffung von Kitagebühren und der Ausbau von Ganztagsschulplätzen. Ach so, und außerdem, da schlägt des Spitzenkandidaten Brüsseler Politsozialisation durch, die Wahrung, ja Stärkung des europäischen Zusammenhalts.

Zusagen für Deutschland sagen nur Deutschen zu

Für die Generation Youtube wurden diese koalitionspolitischen »Haltelinien« – der Begriff hat im Zeichen der sozialdemokratischen Defensivkultur mittlerweile jenen der »Reform« abgelöst – verbrauchergerecht auf »4 Zusagen für Deutschland« eingedampft. Vier Zusagen, die sich selbst die geneigte Nichtwähler*in merken kann: gerechte Löhne, gute Schulen, sichere Renten plus ein demokratisches Europa für den Frieden. Vier Zusagen, die einer Absage gleichkommen. Und zwar einer Absage nicht nur an all jene, die meinen, linke (oder sagen wir vielleicht weniger altbackene) progressive Politik könnte und müsste aus mehr bestehen als nur dem ewigen sozialdemokratischen Mantra von »Arbeit und Bildung«. Schulz‘ Zusagen sind vor allen Dingen auch eine Absage an all diejenigen, die der irren Vorstellung anhängen, dass Deutschland nicht die Welt ist – und die Forderung nach »mehr Gerechtigkeit« daher womöglich nicht an den deutschen (oder auch europäischen) Grenzen haltmachen sollte.

Gerechte Löhne, gute Schulen, sichere Renten, Demokratie und Frieden: Wer hätte das nicht gerne? Diesen Zielkatalog würde wohl jede Partei in den kommenden Koalitionsvertrag schreiben. Oder sagen wir fast jede, denn Wirtschaftsliberale sehen die erstgenannten Ziele natürlich außerhalb der öffentlichen Verantwortung, Gevatter Markt wird das schon zur Zufriedenheit richten. Und mit Demokratie und Frieden haben es ja nun wahrlich nicht alle und vielleicht sogar zunehmend weniger Parteien so richtig. Aber egal, klingt natürlich dennoch gut und schmückt jedes Regierungsabkommen, unabhängig davon, was man dann im Regierungsalltag daraus macht.

Doch gerechte Löhne, gute Schulen, sichere Renten, Demokratie und Frieden sind als politische Ziele im Kern nur deswegen so wenig kontrovers, weil man dabei automatisch mitdenkt: Hier geht es um uns. Letztlich weiß jede*r: Es geht um unsere Löhne, unsere Schulen, unsere Renten. Um demokratischen Frieden bei uns und für uns. Es geht um die Fortschreibung unseres 20. Jahrhunderts in die Zukunft, um die Beibehaltung jener normativen Horizonte, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Gesellschaften wie der Bundesrepublik Deutschland zielsicher das politische Handeln anleiteten. Was kümmert uns die Welt da draußen, solange sie hier drinnen in Ordnung ist? Zusagen für Deutschland sind immer solche, die Deutschen zusagen. Und zwar ganz gleich von welcher Partei sie kommen.

Abgefahren: Gerechte Löhne für Zugewanderte

Was könnte man sich stattdessen nicht alles an gerechtigkeitspolitischen Forderungen vorstellen, wenn dabei etwa auch nur ansatzweise in Rechnung gestellt würde, dass Deutschland eine Einwanderungsgesellschaft ist. Zumindest im demokratischen Kernspektrum des Parteiensystems wird dies ja, nach Jahrzehnten der Leugnung des Offensichtlichen, mittlerweile erkannt und anerkannt. Geht es aber um Gerechtigkeitszusagen für Deutschland, dann spielt die soziale Tatsache, dass dieses Land »bunt« ist, schlichtweg keine Rolle. Gerechte Löhne auch für Deutsche mit Migrationshintergrund oder gar für Zugewanderte nicht-deutscher Staatsangehörigkeit? Abgefahrene Idee, muss man erst mal drauf kommen! Gute Schulen in allen Landes- und Stadtteilen, auch den multikulturellen? Nicht so wichtig, deutsche Eltern können ja in einem sicheren Drittbezirk Schulasyl für ihre Kinder beantragen. Sichere Renten auch für diejenigen, die den Eingeborenen das Klo putzen, die Schweine schlachten und die Alten pflegen? Also dabei hatten wir eigentlich erst einmal an den fleißigen Automobilarbeiter im sauberen Ländle gedacht. Und dann, natürlich: Demokratie und Frieden! Meint wohl unter anderem das politische Wahlrecht für alle, die hier leben, und keine Abschiebungen in Länder, in denen gewaltsam gestorben wird? Ach, haben wir gelacht. Das wäre ja noch schöner!

In der Tat: Das wäre durchaus schöner als das, was uns die deutsche Einheitsfront der Gerechtigkeitsliebenden in diesem Wahlkampf zu bieten hatte. Und dabei wäre selbst dies nur eine allererste Annäherung an ein Gerechtigkeitsverständnis, das seinen Namen verdient: das nämlich soziale Fragen statt in nationalen Grenzen im globalen Maßstab denkt.

Proletarier*innen aller Welt...

Zugegeben, das ist nicht einfach. Schon im politischen Denken nicht, geschweige denn im Handeln. Gerechtigkeit nicht nur national, sondern auch global zu verstehen, führt direkt in eine Welt, die den gängigen Rahmen verteilungspolitischer Überlegungen und Praktiken sprengt. Denn wir haben es uns angewöhnt, Verteilungsfragen im nationalgesellschaftlichen Rahmen zu stellen und zu beantworten. Oder wir sind daran gewöhnt worden. Der historische Kampf der Arbeiterbewegung um gerechte Löhne und demokratische Rechte, für sichere Renten und gute Schulen richtete sich gegen das nationale Kapital und an den nationalen Staat, nahm die ökonomisch und politisch Herrschenden im eigenen Land ins Visier. Im nationalen Wohlfahrtsstaat der frühindustrialisierten Länder konnte nach dem Zweiten Weltkrieg leidliche Verteilungsgerechtigkeit hergestellt werden, doch der internationalistische Impuls organisierter Klassenpolitik ging darüber zunehmend verloren, der Raum praktizierter Solidarität schnurrte auf die Grenzen des Sozialversicherungssystems zusammen. Die nationale Sozialpartnerschaft sicherte über stabile Produktivitätskoalitionen in den industriellen Kernsektoren die enorme Wachstums- und Wohlstandsdynamik »made in Germany«, doch die Unterschichtung der Klassenstruktur durch eine Nicht-Klasse gering qualifizierter »Gastarbeiter« geriet den einheimischen Lohnabhängigen aus dem Blick. Und mehr noch trübte sich ihr Sinn für das Elend der Welt und für die Ketten der Proletarier*innen all jener Länder, in denen die wohlfahrtsstaatlich-sozialpartnerschaftliche Lockerung derselben politisch weder Programm noch Praxis war.

Die Lohnarbeiter*innen und Sozialbürger*innen Deutschlands (und allgemein des Westens) richteten sich in den sich einstellenden wohlfahrtskapitalistischen Verhältnissen ein, ja freundeten sich mit ihnen an: mit zunehmender wirtschaftlicher Prosperität und der Aussicht auf sozialen Aufstieg, mit wachsenden Konsummöglichkeiten und erweiterten Lebenschancen, mit ein wenig privatem Wohlstand und einem Stück eigenen Leben. Und mal ehrlich: Wer wollte es ihnen verdenken? Hierzulande sicher niemand, und sicher mit dem geringsten Recht all diejenigen Gruppen und Milieus, die ökonomisch wie politisch immer schon am längeren Hebel saßen und denen die erreichte Demokratisierung sozialer Teilhabe in diesem Land seit jeher ein Dorn im Auge ist.

Die Demokratie der anderen

Doch die wohlfahrtskapitalistischen Verhältnisse hierzulande sind zugleich auch ein Problem – auf eine Weise, die den genannten Gruppen und Milieus selbstverständlich nicht der Rede wert ist. Denn das Gesellschaftsmodell Deutschlands (und allgemein des Westens) hat ein uneingestandenes Funktionsproblem, das zugleich ein offenkundiges Gerechtigkeitsproblem ist: Es beruht zu bedeutenden Teilen auf Voraussetzungen, die es selber nicht herstellt und auch nicht herstellen kann, sondern die anderswo von anderen hergestellt werden und werden müssen. Das nationale – an internen Verteilungskriterien gemessen erkennbar massive Ungleichheiten in sich bergende – System von Löhnen, Schulen, Renten, Demokratie und Frieden in den westlichen Industriegesellschaften wird getragen von einer wirtschaftlichen Infrastruktur, die wiederum systematisch auf der Ausbeutung von Mensch und Natur, Arbeit und Leben in jenen Weltregionen basiert, in denen gerechte Löhne, gute Schulen, sichere Renten, Demokratie und Frieden schlichtweg Fremdwörter sind, ja wo all diese europäischen Hochwertbegriffe in den Ohren großer Bevölkerungsmehrheiten wie der reine Hohn klingen müssen.

Doch Löhne, Schulen, Renten, Demokratie und Frieden außerhalb Deutschlands kümmern die deutsche Politik nachweislich nicht, weder im Wahlkampf noch vor- oder nachher. Und, seien wir ehrlich, sie kümmern auch weite Teile der deutschen Wahlbevölkerung nicht. Wer in dieser außerordentlich stabilen Gleichgültigkeitsbeziehung nun die treibende Kraft ist, sei einmal dahingestellt, obwohl dies für die Frage einer möglichen Veränderung der Verhältnisse von großer Bedeutung ist: Haben die politisch und ökonomisch Herrschenden die Bürger*innen so erfolgreich mit Konsumwahn und Wettbewerbsrhetorik sediert, dass sie nach dem Geheimnis des ewigen deutschen »Wirtschaftswunders« gar nicht mehr fragen wollen? Oder haben die Bürger*innen der weltwirtschaftlichen Siegernationen ihre politischen und ökonomischen Eliten vielleicht sogar aktiv darin bestärkt, sie mit derartigen Fragen nicht zu behelligen und ihnen stattdessen eine einigermaßen gesicherte und anerkannte Position im wohlfahrtskapitalistischen Wettbewerbs- und Konsumspiel zu verschaffen?

AfB: Alternative für Bangladesch

Vermutlich stimmt irgendwie beides. So wie es wohl ebenfalls richtig ist, dass es gleichermaßen im Sinne von Eliten wie Massen in Deutschland und anderen reichen Industrienationen ist, wenn der Klimawandel und die damit zusammenhängenden Gerechtigkeitsfragen nicht wirklich zum Thema werden. Zwar beschränken sich die programmatischen »Klimaleugner« im hiesigen Parteienspektrum auf die AfD und eine Fraktion der Hauptstadt-CDU, die offenbar noch im Vorwende-Bewusstsein der Berliner Insellage lebt. Aber politisch betreiben letztlich alle Parteien bloße »Klimafolklore« (SZ) und leugnen faktisch die Radikalität der Herausforderungen und damit auch der notwendigen Veränderungen, die der verniedlichend »Erderwärmung« genannte Prozess der unaufhaltsamen Vernichtung der stofflichen Voraussetzungen menschlichen Lebens mit sich bringt. Ein Prozess, der über viele Jahrzehnte hinweg einseitig von den frühindustrialisierten Ländern befeuert worden ist, und dessen existenzgefährdende Effekte bislang vor allem diejenigen Weltregionen betreffen, die am wenigsten dazu beigetragen haben. Zum Beispiel Bangladesch, wo nicht nur unsere Billigtextilien unter mörderischen Bedingungen gewoben, zusammengenäht und gefärbt werden, sondern wo jüngst angesichts nie dagewesener Wetterbedingungen buchstäblich das halbe Land unter Wasser stand – und gleichzeitig noch viele hunderttausend Flüchtlinge aus Myanmar aufgenommen und beherbergt werden.

Unvorstellbar? Stimmt. Zumal es bislang noch keine Berichte darüber gibt, dass eine von gutbürgerlichem Politpersonal eilig zusammengetrommelte AfB (»Alternative für Bangladesch«) mit rassistisch-sozialchauvinistischen Parolen einen bedeutsamen Teil der einheimischen Bevölkerung mobilisieren und die etablierten Parteien des Landes politisch vor sich hertreiben könnte.

Sieht man die Dinge zur Abwechslung mal so, dann wird der Bundestagswahlkampf 2017 offen als das erkennbar, was er eigentlich war: ein einziges, weiteres Selbstbespiegelungs-, Selbstgerechtigkeits- und Selbsttäuschungsmanöver der Deutschen. Eine nicht nur, aber vor allem auch gerechtigkeitspolitisch skandalöse Veranstaltung, die jedenfalls den sich als progressiv verstehenden oder gebenden politischen Akteuren die (mit Verlaub) verdammte Pflicht auferlegt, ab dem 25. September ihre Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit kritisch zu prüfen – auf die Frage hin, ob diese dem globalen Zeitalter eigentlich noch genügen kann. Und anschließend würde man dann, von der SPD wie auch von LINKEN und Grünen, in vier Jahren mal gerne vier Zusagen nicht für, sondern aus Deutschland hören. Als sozialökologische Alternativvision für Bangladesch.

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