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»Die Witwe des Schmetterlings«

Zum 100. Geburtstag des koreanischen Komponisten Isang Yun

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 7 Min.

Korea - Yun - Europa. Das ist das Beziehungsgefüge, von dem die Musik des Komponisten kündet. Es ist in hohem Maße vielschichtig, teils kompliziert und birgt daher für eingefleischte Europäer ein Gutteil Fremdes, das sich nicht wie Türen einfach aufschließen lässt. Vieles verbirgt sich hinter der Musik Isang Yuns. Deren ideellen Reichtums inne zu werden, bedarf es, streng gesehen, in der koreanischen Geschichte tief zu schürfen und sich in den asiatischen Philosophien nicht nur auszukennen, sondern deren Ausdrucksformen am Leib gespürt zu haben.

Isang Yun, 1917 am Nordchinesischen Meer im Süden Koreas geboren und dort aufgewachsen, ist mit Kulturen des Taoismus und Buddhismus großgeworden. Früh lernt er die Kompositions- und Aufführungskulturen koreanischen Ursprungs kennen und erkundet die Spiel- und Klangcharaktere koreanischer Instrumente, ob höfischer oder volkstümlicher Ausprägung. Von all dem nimmt er ein Gutteil auf, um es später mit europäischen Topoi zu verbinden. Insgesamt erschließt sich seine Musik trotz der vielen Unbekannten in ihr aufs Herrlichste. Sie ist sinnlich, von unerhörter Klangraffinesse, sie vereint Kulturen, statt stur auf der eigenen zu beharren. Yun ist allerdings auf gleichwertig fernöstlich und europäisch nicht festzulegen. Manche Arbeit von ihm klingt nicht viel anders, als sie Künstler der westlichen Avantgarde vorgelegt haben. Solche Stücke schließen fernöstliche Klangbildungen zwar ein, belassen sie aber eher im Hintergrund. Es sind latente Merkmale.

Mitte der 50er Jahre entstehen ein Streichquartett und ein Klaviertrio, für ihn die ersten gültigen Werke. Mit den Mitteln eines 1955 in Südkorea gewonnenen Kulturpreises reist Yun nach Europa, um eine andersartige musikalische Bildung in Anspruch zu nehmen. Zunächst studiert er in Paris, dann in West-Berlin bei Boris Blacher und Josef Rufer. Letzterer bringt ihm die Zwölftontechnik nahe. Zu der Zeit sind neben den Hauptvertretern der Schönberg-Schule Luigi Nono, Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen, Bernd Alois Zimmermann seine Gewährsleute. Also die Namen mit Gewicht im damaligen internationalen Wirkungsbereich der Moderne. Bei den legendären Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik lernt er 1958 John Cage und Bruno Maderna kennen. Prägende Begegnungen. Yun verspürt einen unbedingten Hang zur Avantgardemusik.

Europäische Tradition dürfte am stärksten in Teile seiner sinfonischen Werke gedrungen sein. Seine fünf Sinfonien kommen alle in Europa zur Uraufführung. Hier steht der Komponist mit beiden Beinen im deutschen und europäischen Betrieb. Gleichwohl ticken die Uhren seiner künstlerischen Produktivkräfte anders. »Der Ton ist schon das Leben selbst«, formuliert Yun 1993. Interpretatorisch sei der Ton als flexibler Ablauf zu verstehen, als eine Art »Pinselstrich«, der besondere Aufmerksamkeit des Interpreten erfordert. Die asiatische Klangvorstellung stünde der in Europa anerkannten diametral entgegen. In Asien sei die Klangfarbe grundsätzlich wichtiger als die exakte Tonhöhe. Die Musik ströme. »Piri« für Oboe solo und andere Solo- und Ensemblewerke sind Beispiele für dieses Strömen.

Yun lebte von Geburt an bis 1956 in Südkorea. Seine Heimat musste den Kolonialisierungsprozess der japanischen Besatzer durchmachen, in dessen Folge auch versucht wurde, die koreanischen Volkstraditionen zu liquidieren. Ein ganzer Teil Noten von Liedern, die der junge Mann für Schulen komponiert hatte, fiel diesem Irrsinn zum Opfer. Yun ging in den Widerstand und erlitt erstmals 1943 Haft und Folter. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges beteiligte er sich am kulturellen Wiederaufbau des Landes, bis der Koreakrieg hereinbrach und die Nation teilte.

Isang Yun war ein Entführungsfall in Zeiten des Kalten Krieges. Der beschäftigte seinerzeit die Weltöffentlichkeit. Der »geniale Sprachengel«, wie er genannt wurde, führte lange Zeit unwillentlich ein gefährliches Leben. Im Juni 1967 wird er mit weiteren 16 meist in der Bundesrepublik weilenden Landsleuten nach Südkorea entführt, gefoltert, vor Gericht gestellt und zu lebenslänglichem Gefängnis verurteilt. Im Berufungsprozess beantragt die Staatsanwaltschaft des Park-Regimes die Todesstrafe. Später zieht sie die Anklage auf Spionage zurück, weil sie sich als haltlos erwiesen hatte.

Einer der Anklagepunkte berührt Yuns Kontakte, die er zu Nordkorea unterhalten hat. Seit 1961 galt in Südkorea das sogenannte Antikommunistengesetz, das selbst das Betreten nordkoreanischer Botschaften oder das Zitieren von Karl Marx als hochgradig staatsgefährdend auslegte. Isang Yun hatte sich erdreistet, ein Weltjugendfestival in Helsinki zu besuchen und Kontakte zu Nordkorea und dessen Führer Kim Il Sung zu unterhalten, mit dem er später einige Male zusammentraf. Tatsächlich hatte er damals die Botschaft in Ostberlin besucht, worauf sich Spitzel der südkoreanischen Geheimdienstorganisation KCIA auf die Spur begaben. Am Ende erhielt Yun fünfzehn Jahre Haft als Strafe für das »Betreten verbotener Gebiete«.

Während der Künstler einsitzt, kommt es in der Welt zu einer spektakulären Protestwelle. Seine Stimme erhebt nahezu jeder, der in der westeuropäischen Kunst und Kultur Rang und Namen hat. Aufsehen erregte neben anderem der Entschluss der Freien Akademie der Künste in Hamburg, den zum Tode Verurteilten zu ihrem Mitglied zu ernennen. Isang Yun unterließ es nicht, unter Haftbedingungen zu komponieren. 1967/68 schrieb er »Die Witwe des Schmetterlings«. In der Annahme, sterben zu müssen, sollte die heitere Oper sein Vermächtnis sein. Das Werk blieb vorerst in Verwahrung, weil die Behörden fürchteten, es lägen darin - absurd - verschlüsselte Nachrichten verborgen. Erst am 23. Februar 1969 fand in Nürnberg die Uraufführung statt. Die Einsprüche Willy Brandts, damals Bundesaußenminister, führten dazu, dass Yun nach zweiundzwanzigmonatiger Haft freikam. Noch lange danach äußerte er: »Ich bin zerrissen, meine Werke weinen.«

Entschieden setzte sich Yun für die Einheit seines geteilten Landes ein. Kunst und Politik trennte der Sozialist und Weltbürger: »Ich bin nur Musiker, sonst nichts, und als Musiker habe ich mit Politik direkt nichts zu tun.« Im Übrigen lag es ihm fern, ein Schwarz-Weiß-Bild zu malen - Nordkorea gut, Südkorea böse. Das Land mit seinen Naturreichtümern, seiner Kunst und Musik war für ihn - gegen die Realität - schlechthin unteilbar.

Von seinen etwa 150 vollendeten Werken sind die wenigsten direkt an politische Sujets gebunden. Mehrere Stücke komponiert Yun auf Texte der jüdischen Dichterin Nelly Sachs. Etwa die V. Sinfonie für großes Orchester und Bariton (1986). Den Solopart gab seinerzeit Dietrich Fischer-Dieskau. Oder die Komposition »Teile dich Nacht« auf drei Gedichte von ihr für Sopran und Kammerensemble (1980). Beide Werke tragen keine direkte politische Botschaft, sie gehen vielmehr ins Innere menschlicher Gefühlsbereiche und setzen das Thema der Verfolgung poetisch ins Bild, jenen Bereich, dem beide Autoren niemals entfliehen konnten.

Offen politisch ist die Komposition »Exemplum in Memoriam Kwangju«. Sie thematisiert den Volksaufstand in Kwangju 1980, der blutig niedergeschlagen wurde. 3000 Menschen starben im Kugelhagel der Soldateska. Yun wollte die Gräber besuchen, aber die Behörden ließen ihn nicht einreisen. Erst 1994 durfte das Werk im unterdes politisch gewendete Südkorea erklingen.

Während in Nordkorea die Aneignung des Yunschen Werkes keine Probleme macht, überwölbt in Südkorea nach wie vor (trotz zeitweiliger Demokratisierungstendenzen) die Politik das Bild des Komponisten. Ein Teil seiner Arbeiten ist dort immer noch verboten. Demgegenüber führt in Pjöngjang seit langem eine Musikschule seinen Namen, und, wie selbstverständlich, trat vor einigen Jahren ein Isang-Yun-Ensemble für Neue Musik ins Leben, das auch schon mehrmals in Deutschland konzertiert hat.

In Europa ist Isang Yuns internationale Geltung mindestens seit den achtziger Jahren unbestritten. Die neunziger Jahre bescherten dem Lebenden höchste Bewunderung. Seinem 75. Geburtstag 1992 widmeten sich ganze Festivals. Aktuell ist der Komponist vielerorts wieder im Gespräch. Beim jetzt laufenden »Musikfest Berlin« ist Yun-Musik verdientermaßen einer der Programmschwerpunkte.

Wie bedeutende Maler, zum Beispiel van Gogh, Hunderte Bilder in ein und demselben Stil herstellten, jedes einzelne Bild ein anderes, horchte Isang Yun unzählige Male der Idee nach, mehrere Klangschichten zu exponieren und in ein strömendes Delta überzuführen, eins, das stille zu stehen scheint und sich doch unentwegt fortbewegt.

Isang Yun starb am 3. November 1995 im Alter von 78 Jahren. Er war lange krank, litt an schwerem Asthma. Eine Lungenentzündung hat er nicht mehr überstanden. Sein Grab liegt in Berlin. An diesem Sonntag feiert die Musikwelt seinen 100. Geburtstag.

Eine Ausstellung zu Leben und Werk Isang Yuns ist noch bis zum 30. September im Foyer des Kammermusiksaals der Berliner Philharmonie zu sehen.

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