Das bläulich strahlende »Ding« aus dem Krankenhaus
Vor 30 Jahren verursachten zwei junge Arbeitslose in Brasilien auf der Suche nach schnellem Geld eine Atomkatastrophe
Es ist 13. September 1987. Die beiden jungen Arbeitslose, Roberto dos Santos Alves und Wagner Mota Pereira finden in der Ruine eines ehemaligen Krebskrankenhauses im zentralbrasilianischen Goiânia ein verlassenes Strahlentherapiegerät: Mehr als 100 Kilogramm Blei und Stahl, die sich zu Geld machen lassen. Ohne die Gefahr auch nur zu ahnen, montieren sie den schweren Strahlungskopf ab und transportieren ihn per Schubkarren nach Hause in die Rua 57. Dort brechen sie ihn auf, um den Bleimantel abzutrennen und setzen dabei erstmals Cäsium-137 frei. Noch am selben Tag leiden sie unter Erbrechen.
Cäsium-137 ist ein stark strahlendes Radionuklid, das in der Natur nicht vorkommt. Es ist radioaktiver Abfall, der bei der Kernspaltung von Uran-235 in Atombomben und Kernkraftwerken entsteht. Nach dem Zweiten Weltkrieg begannen die USA mit dem Export dieses hochradioaktiven Cäsiums in Form von kristallinem Cäsiumchlorid als Strahlenquelle für die medizinische und industrielle Nutzung. So kam es 1971 auch in die knapp Tausend Kilometer von Sao Paolo entfernte Millionenstadt am Rio Meia Ponte und letztendlich in die Hände der beiden Schrottsammler Roberto und Wagner.
Am 18. September verkaufen die beiden das Blei und den restlichen Strahlenkopf an den Schrotthändler Devair Alves Ferreira in der Rua 26-A. Ein bläulicher aus der Strahlenöffnung dringender Schein fasziniert den Händler. Er entdeckt das kristalline Cäsium-Pulver und zeigt es Freunden und Verwandten. Viele von ihnen erkranken in den Folgetagen an der Strahlenkrankheit, doch die Ärzte in Goiânia tippen zunächst auf verdorbenes Essen und dann auf eine Tropeninfektion.
Am 28. September allerdings ist sich Devairs Frau Maria sicher, dass der seltsame Strahlenkopf mit den bläulich leuchtenden Kristallen die Ursache ist. Mit Hilfe eines Angestellten transportiert sie das strahlende »Ding« per öffentlichen Bus quer durch die Stadt zur Gesundheitsbehörde.
Die Ärzte dort wissen nichts damit anzufangen. Erst am nächsten Tag wird der Physiker Walter Mendes Ferreira, der zufällig in Goiânia auf Urlaub ist, um Hilfe gebeten. Dieser leiht sich einen Geigerzähler von einem Unternehmen, das in Brasilien Uransuche betreibt. Noch bevor er die Gesundheitsbehörde erreicht, schlägt das Messgerät heftig aus. Die von einem der Mitarbeiter der Gesundheitsbehörde zwischenzeitlich informierte Feuerwehr will den Strahlenkopf in den nächsten Fluss werfen, was der Physiker verhindern kann.
Erst jetzt, am Nachmittag des 29. September, wird Brasiliens Atomenergiekommission CNEN in Rio de Janeiro alarmiert. Die CNEN registriert insgesamt 85 Häuser und 45 öffentliche Plätze und Einrichtungen, die mit Cäsium-137 kontaminiert sind. Die sieben am stärksten verstrahlten Orte werden abgesperrt und evakuiert. Gleichzeitig fliegt die brasilianische Luftwaffe die verstrahltesten Cäsium-Opfer nach Rio de Janeiro, wo sie im Marinekrankenhaus behandelt werden.
Am 3. Oktober, 20 Tage nach dem Beginn der Katastrophe, gilt der radioaktive Unfall von Goiânia offiziell als »unter Kontrolle«. Doch erst Mitte November beginnen die Dekontaminierungsarbeiten in der zentralbrasilianischen Stadt, die Weihnachten 1987 weitestgehend abgeschlossen sind. Bis dahin haben Hunderte von Helfern, Bauarbeitern und Technikern die verstrahltesten Häuser abgerissen, Asphalt und Boden abgetragen, den Bauschutt, verstrahlte Kleidung, alle persönlichen Gegenstände sowie kontaminierte Haustiere, Hühner, Schweine, Kaninchen und Hunde in Metalltonnen verpackt. Die beiden kontaminiertesten Orte in der Rua 57 und Rua 26 A wurden mit einer 50 Zentimeter dicken Zementschicht versiegelt. Exakt 19,26 Gramm Cäsium-137 erzeugte rund 6000 Tonnen radioaktiven Müll.
Die CNEN stellte 249 verstrahlte Personen in Goiãnia fest, 129 von ihnen mit Cäsium-137 im Körper. Laut der Regionalregierung und der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) hat der radioaktive Unfall nur vier Menschenleben gefordert. Die Staatsanwaltschaft von Goiás sowie die Vereinigung der Cäsium-Opfer AVCesio gehen jedoch von weitaus mehr Toten aus. Wenigstens 66 verstorbene Strahlenopfer sowie etwa 1400 kontaminierte Personen habe die Katastrophe um den Strahlungskopf gekostet, schätzen sie. Noch heute streiten viele Erkrankte um Anerkennung als offizielle Opfer, angemessene Entschädigung und adäquate Gesundheitsbetreuung.
Auch nach 30 Jahren ist der radioaktive Unfall von Goiânia noch lange nicht abgewickelt.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.