»Universitäten müssen nicht international vergleichbar sein«

Die Europäisierung hat kapitalistischen Prinzipien Eintritt in die Hochschulen verschafft, sagt Zeitforscher Karlheinz Geißler

  • Lesedauer: 3 Min.

Herr Geißler, kann Lernen glücklich machen?
Nur wenn es Bildung ist und nicht Lernen. Wenn Sie die Möglichkeiten haben, zu experimentieren und sich mit der Welt, in der sie Leben, zu verbinden. Wenn Sie an den Herausforderungen Ihrer Umwelt klüger werden. Früher nannte man das Moratorium, diese Phase im Leben.

Durch Bildung wurde man erwachsen?
Ja. Das war eine Erfindung des Industriezeitalters, dass im Laufe des Lebens Eins das Andere ablöst. Da gab es die Idee, den Menschen ein Moratorium zu gönnen, in dem sie üben können und noch mal neu anfangen, ohne Verluste erleiden zu müssen. Diese Idee ist untergegangen. Mit der Umschaltung von Bildung auf Lernen.

Karlheinz Geißler

Karlheinz Geißler ist Zeitforscher und Wirtschaftspädagoge. Er lehrte an der Universität der Bundeswehr in München. »Wir leben in einer Diktatur der Uhren« sagt er. Geißler verbringt seine Zeit ohne Zeitmessinstrumente. Florian Haenes sprach mit ihm über die bedrohte Zeitinsel Universität.

Wir haben Bildung verlernt?
Interessanterweise nicht ganz. Es hat sich was verschoben, das Moratorium ist nicht ganz weggefallen. Leute erheben heute den Anspruch, wenn sie jahrzehntelang gearbeitet haben, sich eine Auszeit zu gönnen.

Die Auszeit verschiebt sich von der Jugend in die Midlife-Crisis?
Ich erlebe das an der Universität der Jesuiten, hier in München. Ganz viele erfolgreiche Menschen, unter anderem Politiker, wenn sie ihre Karriere beendet haben, studieren hier Philosophie. Um endlich mal Zeit zu haben und nachzudenken. Leider zu spät.

Warum setzt sich das Verlangen nach Bildung schließlich doch durch?
Weil dieses Leben Fragen stellt. Ich blocke ganz viele Fragen ab, während meiner Karrierezeit. Die gehen ja nicht verloren, sondern sind in mir drin und fordern Antworten ein. Die Fragen sammeln sich an und irgendwann wandert man durch Indien und denkt drüber nach.

Was verrät diese Verschiebung über unsere Gesellschaft?
(lacht) Tja, darüber müsste ich länger nachdenken.

Also Zeit haben wir ja …
(überlegt) Naja, es scheint so, dass erst die Erschöpfung eine Auszeit rechtfertigt. Und Bildung wird auch als das Sahnehäubchen verstanden, nicht als Fundament. Bildung als etwas, was man sich leisten können muss.

Sein Recht auf Bildung muss man sich erarbeiten?
Ja, das ist das Produkt dieser Zeit-ist-Geld-Logik. Ich muss vorher erst das Geld ansparen, damit ich außerhalb der Logik leben kann.

Nur mein Chef ist frei ...
Es ist das alte Prinzip. Die Leute beschäftigen, damit sie nicht auf dumme Gedanken kommen. Ihnen permanent Druck machen.

Wie hielt sich Uni bis in die 1970er Jahre als Freiraum?
Bis dahin herrschte ein gesellschaftlicher Konsens, dass das Zweck-Mittel-Leben erst nach der Universität anfängt. Ein Überbleibsel der Humboldt'schen Tradition.

Was löste den Konsens?
Ich fürchte, das war die Europäisierung …

Wie das?
Die kapitalistischen Prinzipien wurden auf die Universität übertragen. Andere Länder kennen kein Moratorium. In England gab es das nicht, in Amerika übrigens auch nicht. In Frankreich kaum. Der Konsens brach, weil Universitäten und Absolventen europaweit konkurrierten.

Es bräuchte Bildungsinseln?
Natürlich. Universitäten müssen nicht international vergleichbar sein. Warum eigentlich?

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