Preis für Integrationsarbeit vergeben

Berliner Präventionspreis gegen Gewalt zeichnet ehrenamtliches Engagement für Flüchtlinge aus

  • Jan Schroeder
  • Lesedauer: 4 Min.

Ihnen hat das Projekt aus der Isolation der Notunterkünfte geholfen: Geflüchtete Mütter stehen mit ihren Kindern auf der Bühne und freuen sich mit der Initiative »Schutzhülle e.V.« und der Heide-Grundschule über den mit 7500 Euro dotierten Hauptpreis. Die Landeskommission gegen Gewalt vergibt die Auszeichnung in drei Stufen. Hinzu kommen drei Sonderpreise.

Das ausgezeichnete Engagement begann, als eine Lehrerin der Grundschule und eine Beraterin des Frauentreffs durch Zufall erkannten, dass die Flüchtlinge aus der nahen Unterkunft in Adlershof keine Möglichkeit haben, sich mit Menschen außerhalb der Unterkunft auszutauschen. Integration sei unmöglich, ohne die Sprache und Kultur kennenzulernen, so Sybille Schumann vom Frauentreff. Deshalb organisieren der Frauentreff und die Grundschule seit Mai 2016 unter Anleitung einer Kunsttherapeutin Kreativkurse, in denen Mütter und ihre Kinder Erlebnisse in ihren Heimatländern sowie ihre Flucht verarbeiten. Zudem helfen ihnen die Kurse, die deutsche Sprache zu erlernen. »Wir machen das immer noch jeden Dienstag, und inzwischen greifen viele Freiwillige unserer Kunsttherapeutin unter die Arme«, sagt Schumann.

Sogar Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte eingeräumt, dass der Flüchtlingszustrom 2015 ohne die vielen zivilen Initiativen schnell hätte im Chaos versinken können. Inzwischen wurden viele Unterkünfte leergezogen, während sich nach wie vor viele Initiativen um die Integration und Gewaltprävention kümmert. Solche Projekte werden dieses Jahr mit dem Präventionspreis gefördert, der seit rund zwei Jahrzehnten mit unterschiedlichen inhaltlichen Schwerpunkten verliehen wird.

Der mit 4500 Euro dotierte zweite Preis ging an den Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf für eine Serie von Kunstprojekten mit Schülern in Willkommensklassen. »Das Bezirksamt ermöglicht den Schulen einen unbürokratischen Zugang zu Geldern für ihre ehrenamtlichen Projekte. Die eigentlichen Preisträger sind somit die vielen Schulen, die die Projekte gemacht haben«, sagt Baustadtrat Oliver Schruoffeneger (Grüne).

Mit dem dritten Preis (3000 Euro) wurde ein Projekt der Berliner Verkehrsbetriebe zur Vorbereitung junger Flüchtlinge auf den Arbeitsmarkt geehrt. Mit je 1000 Euro dotierte Sonderpreise erhielten drei weitere Initiativen: Im Rahmen des Polizei-Projekts »Nicht im Abseits stehen« spielen junge Flüchtlinge in Reinickendorf Fußball. Bei den »Immi᠆grant Stories« an der Johanna-Eck-Schule in Tempelhof erzählen Geflüchtete ihre Geschichte in kurzen Filmen. Zum ersten Mal bei der Preisverleihung zeigt sich, dass trotz allen zivilen Einsatzes staatliche Institutionen nicht immer am selben Strang ziehen. Im Gegenteil: Ayah Tamin, die seit 2014 in Deutschland lebt und bald wieder nach Syrien zurückkehren möchte, widmet den Kurzfilm über ihr Leben und die Flucht über Ägypten nach Deutschland einem im Juli abgeschobenen Mitschüler.

Die Wohlfühlatmosphäre störte nur Martin Kögel von der Kirchengemeinde Heilig Geist im Westend. Ihm wurde die traute Einigkeit scheinbar zu viel. Er stellt das Projekt »My Westend« vor, das den dritten Sonderpreis erhielt.

»Es muss kritisch gesagt werden, worum es hier eigentlich geht«, beginnt er den Teil seiner Rede, der wohl dem Blick über die einzelnen Erfolge seiner Initiative auf das größere Ganze gilt. Klar, gegen Ehrenamt und Preise hat auch er nichts. Wohl aber gegen die »Politik und die Regeln«, die Flüchtlingen den Zugang zu Bildung und Arbeit versperren und viele abschiebt, wie er sagt.

Kögel engagiert sich seit einigen Jahren in der Initiative, die jungen Flüchtlingen das Ankommen in Charlottenburg mit Deutschkursen, Ausflügen, Gitarrenunterricht und Schwimmtraining erleichtern will. 30 Jugendliche kommen regelmäßig, dann werden sie plötzlich von den Behörden in der ganzen Stadt verteilt. Kögel kann die Maßnahme nicht verstehen, haben sich die Jungs doch gerade erst im Ortsteil Westend eingelebt. Trotzdem bleibt die Verbindung erhalten, die Helfer arrangieren sogar einen Ausflug nach Hamburg für die Flüchtlinge.

Nach Jahren der Integrations- und Bildungsarbeit sollen viele der Jugendlichen nun abgeschoben werden - nur drei von ihnen bekommen Asyl. »Mit der Drohung, abgeschoben zu werden, haben die Jugendlichen die mühsam gewonnene Sicherheit wieder verloren, und wir haben von Verzweiflung bis Suizidversuche alles erlebt. Dagegen ist jedes Ferienprogramm und jedes Ehrenamt machtlos«, sagt Kögel. Dafür gibt es viel Applaus, anschließend geht das Programm unter dem Motto »Jung, geflüchtet, offen für die Zukunft« weiter.

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