Eine Wende. Auch ein Anfang?

Rechtsverschiebung, Ende der »Volksparteien«, neue linke Opposition, Osten als Problemzone, Fragen an uns Medien: Überlegungen zum Ausgang der Wahl

  • Tom Strohschneider
  • Lesedauer: 9 Min.

Das alte Parteiensystem vor dem Ende

Ja, das war ein mieser Abend. Ja, diese Wahl markiert einen Wendepunkt. Aber an den Anfang von Überlegungen gehört am Morgen danach der Einbruch der bisher noch so bezeichneten »Volksparteien«: Union und SPD haben gegenüber 2013 weit über 12 Prozent ihrer Stimmenanteile verloren, die CDU das schlechteste Ergebnis seit Jahrzehnten eingefahren, die CSU in Bayern ist um zehn Punkte abgestürzt, die SPD rutscht noch einmal weiter ab und steht auf einem neuen historischen Tief.

Wenn mit Blick auf die Wahl von einem Wendepunkt die Rede sein kann, dann liegt er hier: Das alte Parteiensystem, dominiert von Union und SPD, steht vor seinem Ende. Viele Fragen sind nun aufgeworfen: Was macht das bürgerlich-konservative Lager noch aus? Wie werden sich nach rechts tendierende CSU und in der Mitte suchende CDU künftig zueinander verhalten? Was bedeutet anno 2017 eigentlich noch Sozialdemokratie? Wie verändert sich die Kultur von Koalitionsbildung und Regierungshandeln? Wohin ziehen die Grünen? Sie werden durch politische Praxis beantwortet. Die kommenden vier Jahre werden ein Klärungsprozess sein.

Die Rechtsverschiebung hält an

Man wird gerade an Tagen wie diesen auch über die Hoffnung reden müssen, die Veränderung als Antrieb braucht. Aber: Das Wahlergebnis ist Ausdruck einer gesamtgesellschaftlichen Rechtsverschiebung. 2013 hatten die rot-rot-grünen Parteien noch 42,7 Prozent der Zweitstimmen erhalten. 2009 waren es 45,6 Prozent. Bei dieser Bundestagswahl waren es nur 38,6 Prozent. Dem steht ein Mitte-Rechts-Block gegenüber, der 56,3 Prozent erzielt hat.

Einmal abgesehen davon, ob man die Bezeichnung Mitte-Links-Lager richtig findet oder nicht: Es stellt sich die Frage, ob Grund für diesen Rückgang die bisherige Unfähigkeit war, eine wirksame gesellschaftspolitische Alternative auf die Beine zu stellen, also auch machtpolitisch handlungsfähig zu werden. Wo stünden wir, wenn es 2013 eine rot-rot-grüne Koalition gegeben hätte? Dies muss auch deshalb geklärt werden, weil die Zustimmung für die als mehr oder weniger links bezeichneten Parteien deutlich niedriger ist als die Zahl derer, die sich im politischen Koordinatensystem selbst im großen Mitte-Links-Lager verorten. »Ein politisches Konzept der linken Mitte für die Nach-Merkel-Ära gab es nicht«, schreibt Thomas Falkner in einer Analyse der Wahl. Wird es nun eines geben?

Eine neue linke Opposition?

Für SPD und Linkspartei brechen nun so oder so spannende Zeiten an. Die SPD hat mit ihrer frühen Entscheidung, in die Opposition zu gehen, erst einmal einen dicken Strich gezogen. Die Sozialdemokraten müssen sich nun zwar anhören, ihr Eigeninteresse vor die Staatsverantwortung gestellt zu haben - wären sie noch am Wahlabend in eine Große Koalition gerannt, hätte der Vorwurf aber umgekehrt gelautet. Im Licht des AfD-Ergebnisses wird man dem Schritt, die Oppositionsführerschaft nicht den Rechtsradikalen zu überlassen, gern eine demokratiepolitische Funktion zubilligen wollen.

Über die Frage von Ziel und Dimension einer möglichen Neuorientierung der Sozialdemokratie ist damit aber erst einmal noch gar nichts gesagt. Klar ist freilich: Es wird Auswirkungen haben auf die anderen Spieler in der »sozialdemokratischen Matrix«, also auch auf die Linkspartei, die neue Konkurrenz um Sichtbarkeit bei sozialen Themen bekommen wird. »Wer progressive Politik in diesem Land will, wird auf einen Neuanfang der und in den Parteien setzen müssen«, schreibt Horst Kahrs von der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Eine linke Opposition aus Linkspartei und SPD sei »wohl eine letzte Chance, alternative Gestaltungsperspektiven auf dem Boden des bestehenden Parteiensystems zu entwickeln«.

Vorbild Frankreich oder Spanien?

Es könnte aber auch sein, dass die Zukunft über das bestehende Parteiensystem hinausgeht. Wenn es stimmt, dass viele grundlegende Richtungskonflikte auch innerhalb der bestehenden Parteien bestehen, dies nicht zuletzt in strategischen Kontroversen zum Ausdruck kommt, etwa in der Koalitionsfrage, dann könnte es durchaus auch zu organisatorischen Neuformierungen kommen. Die Entwicklung der politischen Landschaft in Frankreich oder Spanien hat - etwa mit der Implosion der sozialdemokratischen PS oder dem Aufstieg der linken Podemos - vor Augen geführt, wie schnell so etwas gehen kann. Beispiel Grüne: Zwischen der Option Jamaika, die nun auf dem Tisch liegt, und den politischen Erwartungen eines großen Teils der Mitglieder und Wähler, liegen Welten. Ob dazwischen noch Brücken möglich oder ob die »Kontinente« längst zu weit auseinandergedriftet sind, wird man sehen. Dies aber wird immer auch Auswirkungen auf die anderen Parteien im Mitte-Links-Lager haben.

Linkspartei im Zwischenleben

Die Linkspartei ist in einem Zwischenleben angekommen: Sie ist nicht mehr die Protestpartei, weder im Osten aufgrund der Wendeerfahrungen noch im Westen als linkes Gegenmodell zur SPD. Sie ist aber noch keine Gestaltungspartei, die einer neuen gesellschaftlichen Richtung als Motor dienen kann. In ihren Ergebnissen spiegeln sich zugleich Verschiebungen, die auch außerhalb des linken Wählerpotenzials eine Rolle spielen, etwa die wachsende Schere zwischen den Ergebnissen in Städten und ländlichen, peripheren Regionen. Zugleich ist die Entwicklung vielfältig und widersprüchlich, auch der Thüringer Europaminister Benjamin-Immanuel Hoff hat darauf hingewiesen: Man könnte von Insignien eines Übergangs sprechen: Rückgänge im Osten und Zuwächse im Westen, überdurchschnittlicher Zuspruch bei Jüngeren und Akademikern. Zwischen linkem Ministerpräsident und außerparlamentarischer Bewegung, zwischen festen Direktmandaten hier und hoher Ergebnisvotalität da liegt ein weites Feld.

So verständlich es ist, wenn nach Wahlen nun auf die positiven Aspekte eines Ergebnisses verwiesen wird, in diesem Fall auf die leichten prozentualen Zuwächse und auf das Plus bei den Zweitstimmen, so wenig lässt sich aber die Frage vom Tisch wischen, ob nicht nach vier Jahren Oppositionsführerschaft mehr hätte rausspringen müssen.

Die AfD ist nicht die Mehrheit

Die Sorgen und die Beklemmung, die das Ergebnis der rechtsradikalen AfD auslöst, sind so richtig, wie ein nüchterner Blick am Morgen danach auch hilfreich sein kann: 12,6 Prozent sind 12,6 Prozent. Eine ganz überwiegende Mehrheit hat die Rechtsradikalen nicht gewählt. Je lauter nun aber das ganz große Panikorchester spielt, umso mehr Wasser wird auch weiterhin auf die Mühlen der Aufmerksamkeitsfabrik der AfD gelenkt. Die Empörung hat dabei nicht immer eine aufklärerische Funktion. Und sie lenkt teilweise ab von anderen Problemen, von mindestens ebenso tief reichenden Rissen, von politisch wohl größeren Herausforderungen.

Das bedeutet nicht, zu unterschätzen, dass hier 12,6 Prozent einer Partei ihre Stimme gegeben haben, deren Spitzenpersonal von der »Entsorgung« ihr unliebsamer Menschen gesprochen haben. Die, die Verbrechen der Wehrmacht gefeiert haben. Die mit Repression gegen Andersdenkende gedroht haben. Der Erfolg dieser rechtsradikalen Partei ist beschämend – und gefährlich, weil darin auch eine Normalisierung von Positionen steckt, die eine reale Bedrohung für Migranten, Geflüchtete, Schwule und Lesben ist, für alle die anders sind. Darauf angemessen und solidarisch zu reagieren, ist selbstverständlich, mit Demonstrationen am Wahlabend wird es aber auch nicht getan sein.

Der Osten: Problemzone forever?

Man wird angesichts des Abschneidens der AfD in den neuen Ländern jetzt wieder viel über den Osten reden. Die Frage ist, ob dieses Über-den-Osten-reden, wie es bisher zum Teil üblich ist, nicht auch zu solchen Wahlergebnissen beiträgt. Das mediale und politische Fingerzeigen auf Problemzonen markiert deren Bewohner bloß, ändert aber erst einmal nichts an den sozialen und auch psychologischen Bedingungen, die man als Teilursache für den Rechtsruck nicht unterschlagen kann.

Typisch war im Wahlkampf, wie das Thema Osten von andern Parteien auf den letzten Metern »entdeckt« wurde, was womöglich sogar frustverstärkend wirkte. Der Leipziger Politikwissenschaftler Hendrik Träger hat das hohe AfD-Ergebnis in Teilen der neuen Länder als Ausdruck der »Unzufriedenheit mit den Regierungsparteien«, besser gesagt: »mit denen in Berlin«, charakterisiert. Andererseits stellt sich hier die Frage, warum die Linkspartei, die ja am ehesten glaubwürdig als Vertreterin ostdeutscher Interessen im Wahlkampf agieren konnte, daraus keine höhere Zustimmung machen kann.

Wir und die anderen

Die politische Debatte zirkuliert um ein »neues Mega-Thema«, schreibt Falkner – eine bisher nicht so stark wirkende gesellschaftliche Konfliktlinie, an der entlang sich politische Strömungen definieren. Er sieht unter anderem Fragen wie »Gewinner oder Verlierer von Globalisierung und Digitalisierung?« und »Wie gewinnt man Kontrolle über diese Prozesse; wie gewinnt man Gestaltungskraft«, wobei sich die politische Welt in »Nationalisierung oder Internationalisierung« und »Reform von Wirtschafts-, Sozial- und Gesellschaftspolitik oder Rekonstruktion/Konservierung einstmals sicherer Strukturen und Institutionen« teile. Der Umgang mit Geflüchteten ist davon eher Ausdruck als ein Kernelement, die jeweilige Position im politischen Raum wird aber stärker als je an der Migrationspolitik »festgemacht« und »verdeutlicht«: Also entweder Abschottung, Abschiebung, Abwehr – oder Offenheit, Integration, Solidarität.

Kahrs spricht von einer »aufgestauten gesellschaftspolitische Richtungsdebatte«, die nun – also seit etwa zwei, drei Jahren – aufbricht, wobei der AfD-Erfolg nur eine Eruption unter anderen darstellt. Die Fragen, die teils quer zu den Grenzen der Organisationsformen beantwortet werden, also auch innerhalb von Parteien umstritten sind, »lassen sich auch nicht entlang der Grenzziehungen von sozioökonomischen Fragen und Problemen einerseits und kulturellen Unterschieden andererseits bearbeiten«, so Kahrs. Es gehe vielmehr in einem »umfassenden Sinne um ‚Unsere Zukunft in der Welt‘ und das Unbehagen, welches der Status quo auslöst«. Frage man Wähler nach ihren Zukunftserwartungen, zeige sich immer dasselbe Bild: »Mehrheitlich wäre erwünscht, dass es so weiter geht wie bisher, aber erwartet, dass es so nicht kommen bzw. gehen wird«.

Fragen an uns Medien

Eine Überlegung noch zu den Medien. Wer jetzt über den Aufstieg der AfD zu Recht erschrocken ist, muss sich auch fragen, welchen Beitrag dazu die Berichterstattung über die Rechtsradikalen geleistet hat. Der Kollege Christian Bangel von Zeit online hat von einem »Journalistenpopulismus« gesprochen - wo immer dieser Ressentiments der Bevölkerung gegen »den Islam« und »die Flüchtlinge« vermute, sei »er zur Stelle, um sie hinauszuposaunen und doppelt zu unterstreichen«. Auch anderswo ist die Frage längst gestellt, wie der AfD-Erfolg »herbeigetalkt« oder »herbeigeschrieben« wurde. Eine angemessene Konsequenz darauf ist so nötig wie schwierig zu finden, die Rechtsradikalen werden weiter ihre Strategie der maximalen Empörungsproduktion fahren - künftig als große Oppositionsfraktion, die mit den entsprechenden Mitteln ausgestattet ist. Welche Mittel setzt eine kritische Öffentlichkeit dagegen?

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