Wovon träumt der Mensch?

Theater unterm Dach: Christine Hofer inszenierte »Die Möwe« nach Anton Tschechow

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 4 Min.

Anton Tschechow wurde in den vergangenen 25 Jahren mehr gespielt als vordem: »Die drei Schwestern«, »Onkel Wanja«, »Der Kirschgarten«, besonders häufig »Die Möwe«. Tschechows Dramen sind Reflexe auf eine Spätzeit, ähnlich der, die jetzt erlebt wird, auf das russische »Fin de Siècle« im Zeichen von Willkür und Terror, Spitzelwesen, Klassenteilung und Klassenkampf, Untergangsstimmung noch in edelsten Häusern, Gärung bei den unterdrückten Massen. Nicht unbeschadet davon bleiben neben den hohen Herrschaften auch jene Individuen der adligen und bürgerlichen Mittelschichten. Sie gehen dramatisch durch die Mühlen des Unzumutbaren und kommen als Verzweifelte heraus. Seelischer Verfall regiert in der »Möwe«, moralischer Sinkflug.

Auf dem Landgut, karg skizziert von Dirk Seesemann, ist Eile angesagt, niemand will den Zug verpassen. Pack ich noch den Zipfel des Glücks? Zu spät? Schon wehen die Winde und treiben die Einsamen, Verzweifelten in die Ferne oder ins Unglück. Wonach strebt der Mensch? Wovon träumt er? Welchen Idealen und Illusionen hängt er an? Können Dichtung, Malerei, Bühne das, was Mensch heißt, oder gar die Umstände bessern, verändern? Verdrängt, vernichtet der Künstler, was in ihm schreit? Oder macht er, wie Konstantin Gawrilowitsch Treplew (Kolja) ausruft, den Schrei beredt?

Christine Hofer und ihr Ensemble gaben im Theater unterm Dach eine so rasante wie wunderbare »Möwe« wieder. Frei gestaltet nach Tschechows Drama und Thomas Braschs interpretierender Übersetzung. Überraschend, dass der Dichter und Denker Brasch selber über Zitate Einkehr hält in seine Arbeit. Die »Möwe« ist ein Debattenstück. Sieben Leute spielen ein Theater, das Theater selbst, das Schreiben für es und die Umsetzung des Geschriebenen zum Gegenstand hat. Anfangs dringen nur Geräusche ans Ohr. Niemand da. Dann kommen sie angerannt wie Hunde, die Schmetterlingen nachjagen, nehmen an der papierbedeckten Tischplatte eilig Platz, als würden sie zu spät eintreffen, vor sich Zettel, Manuskriptblätter oder nur das Gedächtnis. Die Crew probt des Russen »Möwe«. Sie spielt sich wechselseitig die Namen und Worte zu. Dann tritt sie weg, um, zum leibhaftigen Schauspielerensemble verwandelt, die Bühne aufzumischen. Eine schöne Idee.

Theater steht bei ihnen infrage. Es auseinanderzunehmen, das ist die Absicht. Die Bühne ist keine Liebhaberbühne wie bei Tschechow. Aber symbolisch groß. Die Bretter sollen knallen, Zustände in die Luft gehen, temporeiches Spiel soll den Schmutz aufwirbeln, den niemand anfasst. Auf groteske Weise, scharf in der Argumentation, untröstlich in der Anklage dessen, was ist. Dass die Verhältnisse scheiße sind, versinnlicht fast jeder Auftritt. Keine vier Akte gibt es, wie das Drama vorsieht, sondern ein Gedankenzug stellt sich her, aufgeteilt in vielerlei Beziehungen.

Zugange sind die schöne, agile Nina, Gutsbesitzertochter und angehende Schauspielerin, sie fährt auf beide Dichter ab. Die zarte, unschuldige Mascha in Schwarz ist immer traurig, weltverlassen. Jener genannte Kolja, das Herzstück der »Möwe«, wird von den gegensätzlichen jungen Damen geliebt; er, kühner Streiter des Theaters mit Wut auf Schlampereien wie das »Anything goes« der Postmoderne im Bauch, immer fragend, was Dichtung soll, wozu sie taugt, was Träume auf dem Theater bedeuten. Sagend, dass Stücke nicht abbilden, sondern kreieren, nicht nachschaffen, sondern schaffen, keine Form haben, die identisch ist mit dem Inhalt, wie Hegel fälschlich gesagt habe.

Semjon ist der komische Lehrer. Er hat es mit Chören. Boris, gleichfalls Dichter, schon berühmt, allseits geachtet, balgt sich mit Kolja in der Frage, wer jeweils besser, wahrheitsgemäßer schreibt. Boris zieht den Kürzeren. Beide begehren Nina, die sich nicht entscheiden kann und einsam, traurig den Landsitz verlässt. Schließlich die alte Polina im Rollstuhl, verschmitzt schaut sie aus und tut so, als würde sie nichts verstehen. Noch bei den heftigsten Wortgefechten der Gruppe bleibt sie auf ulkige Weise heiter gefasst. Kolja ist der Tote am Ende, er ermordet sich selbst, aus der Flasche kommt das Blut. Opfer der unentwegt befragten eigenen Unzulänglichkeit, zerbrechend an dem unseligen Wirklichen, an dem er sich die Zähne ausbiss.

Alle Agierenden leiden rollenbedingt unter Mangel an Frischluft, trotz heiterer Landschaft mit blühenden Büschen, die der Dramentext vorgibt, aber die Bühne unterm Dach nicht braucht. Außer Kolja hängen sie dem guten Gewesenen an und negieren ungesagt Neues im Sinne von Veränderung, den politisch-sozialen Aufstand zum Beispiel. Eine entsetzliche Spätwelt sitzt ihnen im Nacken und verletzt ihre Körper und Seelen.

Nächste Vorstellungen: 28. und 29. September, Theater unterm Dach, Danziger Str. 101, Prenzlauer Berg

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