- Politik
- Grüne
Grüne wollen ernsthaft sondieren
Kleiner Parteitag beschließt Aufnahme der Gespräche mit Union und FDP
Winfried Kretschmann ist bei den Grünen schon lange keine Reizfigur mehr. Als er auf der Bühne der Uferstudios in Berlin-Wedding süffisant bemerkt, dass seine Parteikollegen, denen die »Fantasie« für ein Bündnis mit Union und FDP im Bund fehle, »Die unendliche Geschichte« von Michael Ende lesen oder - wie er selbst - öfter mal in die Oper gehen sollten, lachen viele der etwa 80 Delegierten wohlwollend. Der baden-württembergische Ministerpräsident fügt hinzu, dass er sich 21 Mal Mozarts »Zauberflöte« angesehen habe und es immer anders gewesen sei. »Diese kreativen Menschen zeigen, wie man aus altem Stoff unentwegt etwas Neues macht«, erklärt Kretschmann. Diese Kreativität wünscht er sich bei den Sondierungen auch von seiner eigenen Partei.
Mit ruhiger aber eindringlicher Stimme mahnt Kretschmann, dass Deutschland »eine verlässliche Regierung« brauche. Diese Koalition müsse sich den Problemen Rechtspopulisten, Klimawandel und Europa widmen. Nun bricht großer Applaus aus. Kein Redner vor oder nach Kretschmann erhält an diesem Samstag so viel Beifall. Vergessen sind die einstigen Auseinandersetzungen, als der Südwestdeutsche teilweise im Alleingang die Asylrechtsverschärfungen der Großen Koalition im Bundesrat unterstützt und selbst die kleinsten Umverteilungsforderungen der eigenen Bundespartei kritisiert hatte.
Nun scheinen die Grünen sein Modell im Bund kopieren zu wollen. Kretschmann ist der bei Wahlen erfolgreichste Politiker seiner Partei und regiert seit der Landtagswahl im vergangenen Jahr mit der CDU zusammen. Dass die Ökopartei bei der Bundestagswahl auf 8,9 Prozent der abgegebenen Stimmen kam, hat sie auch Kretschmann und seiner Truppe zu verdanken, die in der strukturkonservativen Region auf eine harte Abschiebepolitik setzt und weitgehend kritiklos mit den einheimischen Konzernen, etwa der Autoindustrie, zusammenarbeitet. Bei der Bundestagswahl erhielten die Grünen im Ländle 13,5 Prozent.
Dagegen wurden sie im Osten abgestraft. In Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt waren die Grünen am 24. September unter fünf Prozent geblieben, in Brandenburg kamen sie auf genau fünf Prozent (+0,3). Diese Probleme werden auch in dem Leitantrag konstatiert, dem die Delegierten des Kleinen Parteitags bei nur drei Enthaltungen zustimmen. Einen konkreten Plan, wie man in dieser Region hinzugewinnen kann, gibt es aber nicht. Die Spitzenkandidatin und Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt kündigt lediglich wolkig an, dass man für die Menschen, die in der Lausitz von dem Kohleausstieg, den die Grünen fordern, betroffen wären, »Perspektiven schaffen« müsse.
Die Delegierten beschließen auch, dass die Grünen nun Sondierungen mit Union und FDP aufnehmen sollen, wenn die Konservativen demnächst zu diesen Gesprächen einladen werden. Hierfür wurde bereits ein 14-köpfiges Team der Ökopartei zusammengestellt. Mit von der Partie sind neben Kretschmann und der Parteispitze auch einige Bundestagsabgeordnete um den früheren Umweltminister Jürgen Trittin.
Parteichef und Ko-Spitzenkandidat Cem Özdemir, der sich angeblich gut vorstellen kann, Außenminister zu werden, will die Latte bei den Verhandlungen offenbar nicht sonderlich hoch legen. Bei den zehn Punkten der Grünen für eine Regierungsbeteiligung müsse es »relevante Bewegungen« geben, sagt er. Dabei geht es unter anderem um den Kohleausstieg, die Bekämpfung der Fluchtursachen und um eine »nachhaltige Landwirtschaft«.
Die Ko-Vorsitzende Simone Peter, die im Unterschied zu Özdemir als eher links gilt, fordert hingegen: »Wir werden uns nicht mit Plattitüden und Absichtserklärungen in diesen Verhandlungen abspeisen lassen.« Im Folgenden streichelt Peter die Seele der Parteilinken, als sie »fairen Welthandel« und eine »friedensorientierte Außenpolitik« fordert. Letzteres dürfte sie nicht sonderlich ernst gemeint haben. Denn wie nahezu alle Redner an diesem Tag lobt auch Peter die Pläne des französischen Präsidenten Emmanuel Macron zur Reform der EU. Diese sehen nicht nur ein eigenes Budget für die Eurozone und eine stärkere Vereinheitlichung der Steuerpolitik in der EU, sondern auch eine verstärkte militärische Zusammenarbeit mit einer gemeinsamen »Interventionstruppe« vor.
Deutliche Worte gegen die sogenannte Jamaika-Koalition werden bei den Grünen nicht gern gehört. Thomas Dyhr, Basisgrüner aus Brandenburg, kritisiert, dass die CSU die AfD rechts überholen wolle. Auch die Braunkohlebefürworter in der CDU ärgern ihn. Jamaika sei nicht alternativlos. Als Dyhr seine wütende Rede beendet hat und zurück zu seinem Platz geht, herrscht in der Halle ein eisiges Schweigen. Niemand applaudiert. Aber viele Funktionäre wissen, welche Gefahren eine Regierungsbeteiligung im Bund mit sich bringen würde. Zwar dürfte die Basis mit großer Mehrheit die Sondierungen befürworten, vereinzelt sollen aber auch Mitglieder aus Protest bereits aus der Partei ausgetreten sein.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.