Bildung aus einem Guss
Lena Tietgen hält die Zuordnung der Kita zur Kinder- und Jugendhilfe für falsch
Die Auswirkungen des Neoliberalismus weisen Ähnlichkeiten mit denen der Industrialisierung auf. Wie schon im 19. Jahrhundert erfordert der Wandel in der Arbeitswelt und der Arbeitsbedingungen eine Verlagerung der Betreuung der Kinder in den außerfamiliären Bereich. Aber auch die sozialen Folgen der Veränderungen der Produktionsverhältnisse sind ähnlich, wenn auch in ihrer Auswirkung nicht so dramatisch wie vor 150 Jahren. So nimmt heute die Zahl der auf der Straße lebenden Kinder wieder zu, und Kinder aus sozial abgehängten Familien kommen oft mit knurrendem Magen in die Kita.
Dadurch gewinnt der Betreuungsaspekt der frühkindlichen Pädagogik wieder stärker an Bedeutung. Gleichwohl steigt im Zuge rasanter technologischer Entwicklung die Nachfrage nach gut (aus)gebildeten Menschen im wahrhaft Humboldtschen Sinne: Menschen, die sich die Welt selbstständig aneignen und lernend auf sie wirken.
Angesichts dessen wirkt die verwaltungstechnische Zuordnung von Kindertageseinrichtungen zur Kinder- und Jugendhilfe und Schule zur Bildung anachronistisch. Genau genommen ist solch eine Unterscheidung auch kaum vertretbar. Lernen war immer dort erfolgreicher, wo Betreuungsaspekte und Beziehungsarbeit, schlicht Pädagogik, über Didaktik hinauswiesen.
Neue Schulformen des individuellen Lernens und heterogene Lerngruppen, sprich: die Inklusion, heben diesen unsinnigen Dualismus tendenziell auf. Auch Kitas ziehen nach. Fehlt nur noch die Verwaltung, damit Bildung aus einem Guss erfolgen kann. Doch hier scheint der politische Wille zu fehlen. Seit Jahren mäandert der qualitative Ausbau früher Bildung durch Kommissionen, Tagungen, Berichte und gute Absichtserklärungen. Und immer wieder dürfen Experten der Praxis ihr Know-How einbringen, ohne dass sich irgendetwas nachhaltig niederschlägt. Die Festschreibung eines Kita-Qualitätsgesetzes in den neuen Koalitionsvertrag wäre ein Anfang, um diesen bleiernen Zustand zu ändern.
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