Nichts mit Berlin detox
Von Zeit zu Zeit wird es dringend Zeit, die Stadt zu verlassen - und sei es nur für ein paar Tage. Dabei denke ich immer an Brecht und Weigel und ihre »Eiserne Villa« in Buckow. So was mit Mansardengiebeldach und Seezugang hätte ich auch gerne. Dann schön mit Spazierstock und weißen Tennisschuhen durchs Refugium schlendern, Pilze suchen, Zigarillo rauchen und nebenbei ein paar Elegien schreiben und vom Dichtestress der Großstadt erholen. Weil so ein Haus aber unerschwinglich ist, ich giftige von ungiftigen Pilzen nicht unterscheiden kann, mir das daktylische Hexameter nicht liegt und die Nähe zu Berlin gallige Ausdünstungen herüberweht, zieht es mich weiter weg und am besten hoch hinaus, so dass wirklich gar kein Zeichen mehr aus der Hauptstadt zu vernehmen ist. Kein Internet, kein Handyempfang, nur Alpen, Kuhscheiße und ich.
Eine Hüttenwanderung auf 1900 Metern quer durchs Karwendelgebirge, mehr Berlin detox geht nicht. Menschen wird es so kurz vor dem Saisonende auch nicht viele geben, dachte ich. Nix da. Schon auf der ersten Hütte sind von zwölf Gästen vier aus Berlin. Man behandelt sich mit elaborierter Ignoranz, fragt sich, was die hier wollen, so weit weg von Zuhause. Ob es den Japanern im Urlaub auch so geht?
Die insgesamt vier Bayern hingegen plaudern untereinander wild drauf los. Wer kommt nach Ancelotti, wann ist Seehofer weg, warum sind Crocs auf der Hütte die perfekten Hausschuhe? Zwischendrin wird immer mal wieder der »brutal schöne Ausblick« auf die Zugspitze gewürdigt. Mich mit Jon Krakauers »In eisige Höhen« auf den Mount Everest zu verkriechen, gelingt nicht, die Bayern sind zu laut zum nebenbei Lesen, dafür leider nett. Sie fragen, wo ich herkomme und - das gehört in Deutschland dazu - was ich arbeite. Die Zeitung kennt keiner. Kenn ich. Aber auf einmal werden alle ganz sozialromantisch, Grundeinkommen finden sie gut, Volksbühnenbesetzung auch. Ein ehemaliger Gebirgsjäger checkt die Homepage: »Ja, das sind ja ganz spannende Themen da bei euch«. Ich überlege, ob es nicht sinnvoll wäre, eine Abo-Pilgertour zu machen, bezahlt natürlich.
Auf der nächsten Hütte das gleiche Spiel, obwohl nun noch weiter im Inneren des Gebirges. Die, von denen man weiß, dass sie Ossis sind, setzen sich, so weit wie es geht, voneinander weg. Wieder kommen Leute an den Tisch, wieder Bayern. Einer will wissen, was es mit der Volksbühnenräumung auf sich hat, von der ich bis gerade eben nichts wusste. Hat man denn nirgends seine Ruhe, diese gut informierten Bayern zerstören langsam den ganzen Plan, von wegen Einsamkeit und Berlin detox. Wieder fliegt Jon Krakauers Everest-Reportage in die Ecke, denn warum auch immer, die Bayern sind alle furchtbar unterhaltsam. Am Ende überzeugt mich ein Arzt, als nächstes ein Bett aus Zirbenholz zu kaufen, der ätherische Duft des Holzes senke den Blutdruck, sagt er. Wäre in Berlin hilfreich. Unten im Tal gibt es Kutschfahrten durch die Engalm, eine Schaukäserei und eine Traktorrennbahn für die Kleinen. Wenigstens fragt hier keiner nach der Volksbühne.
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