Psychosozialer Notstand bei Geflüchteten auf den griechischen Inseln

Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen fordert sofortige Umsiedlung der Schutzsuchenden auf das Festland

  • Lesedauer: 3 Min.

Athen. Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen wirft Griechenland und der EU vor, für einen psychosozialen Notstand unter Asylsuchenden auf den griechischen Inseln mitverantwortlich zu sein. Die Teams der Organisation auf Lesbos und Samos behandeln immer häufiger Patienten, die Selbstmordversuche oder Selbstverletzungen unternommen oder psychotische Episoden durchlebt haben.

Ein am Dienstag veröffentlichter Bericht von Ärzte ohne Grenzen zeigt, dass Gewalt, Vernachlässigung und die schlechten Lebensbedingungen den dramatisch schlechten seelischen Gesundheitszustand vieler Patienten maßgeblich verursachen. Ärzte ohne Grenzen fordert Griechenland und die EU auf, alle Asylsuchenden sofort auf das griechische Festland umzusiedeln, wo sie angemessen untergebracht werden können und besseren Zugang zu nötiger Gesundheitsversorgung haben.

»Diese Menschen haben Bombardements, extreme Gewalt und traumatische Erfahrungen in ihren Heimatländern und auf der Flucht nach Europa erlebt«, sagt Jayne Grimes, die das psychosoziale Programm von Ärzte ohne Grenzen auf Samos leitet. »Doch es sind die Lebensumstände auf den griechischen Inseln, die sie in Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und selbstverletzendes Verhalten treiben. Es ist eine Schande. Jeden Tag behandeln unsere Teams Patienten, die ihnen sagen, dass sie lieber in ihren Heimatländern gestorben wären als hier gefangen zu sein.«

Während des Sommers kamen pro Woche sechs bis sieben neue Patienten nach Selbstmordversuchen, Vorfällen von Selbstverletzung oder psychotischen Episoden mit akutem Behandlungsbedarf in die Klinik von Ärzte ohne Grenzen auf Lesbos. Im Vergleich zu den vorangegangenen drei Monaten stieg die Zahl der Patienten in dieser Klinik um 50 Prozent.

Die psychische Belastung vieler Patienten wurde durch Gewalterfahrungen verschlimmert, die sie auf dem Fluchtweg oder in Griechenland erlebt haben. Eine systematische Befragung von Geflüchteten durch Ärzte ohne Grenzen und die Forschungseinrichtung »Epicentre« zu Beginn des Jahres auf Samos zeigt: Fast die Hälfte der Befragten hat in der Türkei Gewalt erfahren, und fast ein Viertel hat seit der Ankunft in Griechenland Gewalt erlebt. Personen, die nach dem EU-Türkei-Abkommen im März 2016 Samos erreichten, wurden häufiger zum Opfer von Gewalt in der Türkei und in Griechenland als diejenigen, die zuvor ankamen. Zwischen 50 und 70 Prozent der Gewaltvorfälle wurden laut den Berichten von staatlichen Autoritäten verübt.

»Die Menschen auf das Festland zu bringen, ist ein humanitärer Imperativ«, sagt Louise Roland-Gosselin von Ärzte ohne Grenzen in Griechenland. »Die EU-Staaten und die griechischen Behörden sind für dieses Leid direkt verantwortlich. Die extreme Verletzlichkeit der Menschen und das komplette Versagen aller Ankunftssysteme auf den Inseln lassen keine andere Maßnahme zu.« Die psychosoziale Versorgung der Asylsuchenden, einschließlich psychiatrischer Behandlung, muss dringend ausgeweitet werden.

Ärzte ohne Grenzen arbeitet seit Juli 2015 auf Lesbos. Im Oktober 2016 eröffnete das Team in der Inselhauptstadt Mytilini eine Klinik für Asylsuchende, darunter Patienten aus dem früheren EU-Hotspot Moria und dem Lager Kara Tepe. Die Klinik bot primäre Gesundheitsversorgung, gynäkologische und Mutter-Kind-Untersuchungen, psychische Behandlung und die Behandlung von chronischen Krankheiten an.

Mittlerweile konzentriert sich das Team auf Überlebende von Folter, sexueller Gewalt und Patienten mit schweren psychischen Störungen und leistet ihnen medizinische wie psychologische Hilfe. Auf Samos betreibt Ärzte ohne Grenzen in Vathy eine temporäre Unterkunft für verletzliche Menschen, in der bis zu 80 Personen untergebracht werden können. Agenturen/nd

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