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Wo die meisten Schweine grunzen
Niedersachsen gilt als Agrarland Nummer Eins - und hat eine rote Tradition
»Der rote Welfe« wurde Hinrich Wilhelm Kopf einst genannt, als ihn die britische Besatzungsmacht nach dem Krieg zum Regierungschef des 1946 gegründeten Niedersachsen ernannte. Aus den zuvor selbstständigen Ländern Hannover, Braunschweig, Oldenburg und Schaumburg-Lippe hatten es die Engländer seinerzeit geschmiedet, und der SPD-Mann Kopf schien ihnen wegen seiner Erfahrungen als Landrat als der Richtige. Wohl kaum hätten sie ihn an die Landesspitze gesetzt, wären ihnen seine Verstrickungen ins Naziregime bekannt gewesen.
»Roter Welfe« war er oft tituliert worden, weil er seit 1919 das Parteibuch der Sozialdemokraten besaß und mit Niedersachsen sowohl eine früher dem welfischen Königshaus treu ergebene Region repräsentierte als auch ein Land, in dem die Sozialdemokratie und andere linke Kräfte seit jeher stark vertreten waren. Während der NS-Diktatur zum Beispiel durch die Sozialistische Front.
Vorübergehend wurde die Landeshauptstadt Hannover sogar zum »Zentrum« der Sozialdemokratie: als dort, im Arbeiterviertel Linden, der frühere SPD-Reichstagsabgeordnete Kurt Schumacher ein Büro eröffnete. Von dort aus steuerte er von 1946 an den Wiederaufbau der Partei.
Rot sollte über Jahrzehnte Niedersachsens Politik dominieren. Schon bei der ersten Landtagswahl 1947 erzielte die SPD ein Ergebnis, von dem sie heute nur träumt: 43,4 Prozent der Wählerstimmen, abgeschlagen dahinter die CDU mit 19,9 Prozent. Bei 65 Prozent lag seinerzeit die Wahlbeteiligung, sie steigerte sich zur Landtagswahl 1951 auf 76 Prozent.
Zwischen 1947 und 1975 kamen die Ministerpräsidenten aus den Reihen der SPD - mit einer Unterbrechung: Nach der Wahl 1955 bildete sich ein konservatives Bündnis, das in Heinrich Hellwege von der rechtsgerichteten Deutschen Partei (DP) den Regierungschef stellte.
Vier Jahre später ging das Amt wieder an Hinrich Wilhelm Kopf und blieb sodann bis 1976 bei den Sozialdemokraten. In jenem Jahr traf sie ein schwerer Schlag. Als ihr Ministerpräsident Alfred Kubel aus Altersgründen sein Amt niederlegte, präsentierten sie im Landtag als Nachfolger ihren Finanzminister Helmut Kasimier zur Wahl. Doch die Mehrheit des Parlaments, darunter drei bis heute unbekannte »abtrünnige« SPD-Abgeordnete, wählte den Gegenkandidaten der CDU, Ernst Albrecht. Ein Name, der seither mit atomaren Entsorgungseinrichtungen und -plänen in Gorleben verbunden ist.
Der 2014 verstorbene Unionsmann war bis 1990 Regierungschef, dann verlor er die Wahl an den späteren Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD). Von 2003 bis 2013 unterbrach eine schwarz-gelbe Koalition die Erfolgsserie der Sozialdemokraten, die sodann wieder das Ruder übernahm - zusammen mit den Grünen.
Deren Hochburg ist seit Albrechts Atomplänen das ländlich geprägte Wendland; viele Menschen dort entscheiden sich bei Wahlen für die Ökopartei. Sie hat auch in der Universitätsstadt Göttingen und deren Umgebung ein beachtliches Wählerpotenzial.
Auf ein solches kann die SPD seit jeher in Ostfriesland vertrauen. Eine große Rolle spielt dort nach wie vor die Land- und Forstwirtschaft, regional bis zu 2,7 Prozent der Bevölkerung sind in ihr tätig - bundesweit sind es 0,9 Prozent.
Doch nicht allein Ostfriesland ist von der Landwirtschaft geprägt, sondern ganz Niedersachsen. Es gilt in Deutschland als Agrarland Nummer Eins. In ihm betreuen 37 800 Betriebe - davon 87 Prozent in Familienbesitz - mit 130 000 Mitarbeitern und 2,6 Millionen Hektar landwirtschaftlicher Fläche. Und auch als »Schweineland Nummer 1« präsentiert sich Niedersachsen; 6200 Landwirte halten dort 8,4 Millionen Grunzer, ein Drittel aller deutschen Borstenviecher.
Zurück nach Ostfriesland. Mit der Zunahme industrieller Betriebe hat dort auch die Zahl der im produktiven Bereich Tätigen zugenommen, etwa im Schiffsbau und der Fertigung von Windkraftanlagen. Etwa 9000 Arbeitsplätze bietet allein das Volkswagen-Werk in Emden.
Doch das Werk ist klein im Verhältnis zur Stammfabrik in Wolfsburg, wo viele der in Niedersachsen arbeitenden 120 000 VW-Beschäftigten ihr Geld verdienen. Bei einem Konzern, der vor der Continental AG und dem Touristikriesen TUI die Reihe der größten Unternehmen Niedersachsens anführt. In Wolfsburg steht die SPD hoch in der Wählergunst und auch im Raum Braunschweig und Salzgitter, wo gut 25 000 Menschen in der Stahlproduktion tätig sind.
CDU-Hochburg in Niedersachsen ist unbestritten das Emsland. Es gilt als tiefschwarze, erzkatholische Region, in der sich Landwirtschaft und Industrie in etwa die Waage halten. Es dürfte dort die große Schar der Traditionswähler sein, die nach der Sonntagsmesse auf dem Stimmzetteln das ankreuzten, »was schon Opa gewählt hat«.
Womöglich findet sich im Emsland auch ein beachtlicher Teil der eingeschriebenen CDU-Mitglieder. Mit 60 000 stellt die Union in Niedersachsen die meisten aller parteipolitisch Organisierten. Die SPD kann 57 000 aufbieten, über 6600 zählen die Grünen in ihren Reihen, 5300 Niedersachsen stehen in der FDP-Kartei. Gut 2800 sehen bei der LINKEN, 2400 in der AfD ihre politische Heimat.
Welche Parteien auch die künftige Regierung im acht Millionen Einwohner zählenden Bundesland bilden werden: Die Erwartungen vieler Niedersachsen an die Gewählten sind hoch, vor allem an ihr Engagement für den sozialen Sektor. Bezahlbarer Wohnraum ist Mangelware, und besonders bitter: Rund 16,5 Prozent der Niedersachsen sind von Armut bedroht, wie aus einem Bericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes hervorgeht. Das ist der höchste Stand seit zwölf Jahren und liegt über dem Bundesdurchschnitt von 15,7 Prozent.
Senioren, so schätzen Experten, sind besonders armutsgefährdet. Schon jetzt müssen sich 16 Prozent der Rentner mit weniger als 795 Euro im Monat bescheiden. Selbst über 70-Jährige kommen nur mit zusätzlichen Einnahmen über die Runden und mühen sich oftmals gar mit Flaschensammeln ab.
So ein »Zuverdienst« hilft auch manchen Arbeitslosen ein wenig weiter. Rund 236 000 Menschen ohne Beschäftigung gibt es laut Bundesagentur in Niedersachsen, 159 000 von ihnen leiden unter Hartz IV. Die Arbeitslosenquote im Land, zurzeit 5,6 Prozent, sieht nicht dramatisch aus, etwa im Vergleich zu den 7,8 Prozent im benachbarten Mecklenburg-Vorpommern. Aber solche Werte sind »geschönt«, fallen doch Betroffene aus der Statistik heraus, wenn sie das Jobcenter beispielsweise in »Maßnahmen« gesteckt hat.
Viel Arbeit also für die Gewählten, deren neuen Arbeitsplatz Bundespräsident Frank Walter Steinmeier am 27. Oktober eröffnen wird: den neu gestalteten Plenarbereich des Niedersächsischen Landtages.
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