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Der humpelnde Freistaat
Sachsens Langzeit-Regierungspartei CDU entdeckt nach der Wahlpleite die Kluft zwischen Stadt und Land
Michael Kretschmer stellt sich Sachsen als Zweibeiner vor. Der Freistaat stehe »auf zwei Füßen«, sagte der Mann, der Mitte Dezember neuer Ministerpräsident und CDU-Chef werden soll, bei einem ersten Pressetermin nach der Nominierung. Die zwei Beine sind die Städte sowie der ländliche Raum. Beide seien »gleich wichtig«, sagt der erst 42 Jahre alte Görlitzer: »Ich möchte, dass sich beide gleichmäßig entwickeln.«
Derzeit freilich ist der Freistaat eine traurige Gestalt: das eine Bein athletisch und wohl geformt, das andere kurz, schwächlich und missgestaltet. Soll heißen: Die Kluft zwischen Stadt und Land wird immer tiefer. Die Erkenntnis dämmert der seit 27 Jahren regierenden CDU, seit sie bei der Bundestagswahl eine empfindliche Niederlage einsteckte. Sie kam hinter der AfD nur auf Rang 2 ein und verlor damit erstmals überhaupt eine Wahl. Vor allem in den Dörfern ging ihr oft jeder vierte Wähler von der Fahne, während die AfD bis über 40 Prozent holte. Politiker wie Fraktionschef Frank Kupfer machen allein die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin verantwortlich. Kretschmer, der nach 15 Jahren auch sein Görlitzer Direktmandat an einen AfD-Mann verlor, sieht jedoch daneben eine »sächsische Komponente«: eine eklatante Unzufriedenheit mit der Landespolitik in Fragen von Schule und innerer Sicherheit, aber auch wegen der Vernachlässigung des ländlichen Raums.
Wie sehr der Freistaat humpelt, merkt etwa, wer ins Internet will. In Leipzig geht das flott; 82,2 Prozent der Nutzer surfen mit 100 Megabit pro Sekunde. Jenseits der Stadtgrenzen aber bringen es mehr als 60 Prozent der Haushalte nicht einmal auf 50 Mbit/s, und im Erzgebirge oder im Landkreis Görlitz muss sich ein Drittel der Nutzer sogar mit unter 16 Mbit/s bescheiden. Privatleute stöhnen, Firmenchefs sind verzweifelt, für ambitionierte Projekte etwa in der Telemedizin fehlten elementare Voraussetzungen. Das bundesweite Ziel, bis 2018 alle Haushalte mit mindestens 50 Mbit zu versorgen, ist mit einer Quote von 60,6 Prozent meilenweit entfernt; im Vergleich aller Länder rangiert Sachsen, das sich als Hort von Hochtechnologie und Erfindergeist sieht, auf dem vorletzten Platz. Zwar hat das schwarz-rote Kabinett eine »digitale Offensive« beschlossen und stellt Fördergeld bereit. Doch auf dem Land, klagten Bürgermeister in der »Leipziger Volkszeitung«, »kommt das Signal schlecht an«.
Auch der Lehrermangel ist auf dem Land noch dramatischer als in den großen Städten. Viele Jahre lang hatte es im Freistaat angesichts sinkender Schülerzahlen zu viele Lehrer gegeben. Die Regierung reagierte mit Zwangsteilzeit und Einstellungsstopp - und verpennte die Trendwende. Seit 2011 schießt die Zahl der Schüler in die Höhe; zugleich gehen Tausende Lehrer in Rente, und es fehlt Nachwuchs. Weil es an ausgebildeten Lehrern freilich überall in der Bundesrepublik mangelt und der Freistaat wegen des Verzichts auf Verbeamtung für Berufsanfänger unattraktiver als andere Länder ist, muss man auf Seiteneinsteiger setzen, um den Betrieb überhaupt am Laufen zu halten. Im Schuljahr 2017/18, das die kürzlich überraschend abgetretene Kultusministerin Brunhild Kurth (CDU) als das »schwierigste« seit 1990 bezeichnete, gingen über 50 Prozent der 1400 zu besetzenden Stellen an Quereinsteiger - die höchste Quote bundesweit. Die wenigen »echten« Lehrer, die angeheuert werden, zieht es meist in die Städte. In der ländlichen Oberlausitz liegt der Anteil der Seiteneinsteiger daher sogar bei 77 Prozent an Grund- und 73 Prozent an Oberschulen.
Die Folgen für die Stimmung unter den Eltern sind fatal. Vielerorts hat man sich kaum erst mit der Welle an Schulschließungen in der Zeit nach 1990 abgefunden, die landesweit fast 1000 Einrichtungen betraf - mit der Folge, dass dörfliches Leben verödete und die Kinder zugleich weite Wege in Kauf nehmen müssen. Nun, so die verbreitete Wahrnehmung, werden sie in den verbliebenen Schulen nicht einmal mehr von »richtigen«, also fundiert ausgebildeten Lehrern unterrichtet. Die Landesregierung hat zwar im Jahr 2016 mit einem Maßnahmepaket reagiert, für das der Finanzminister über zwei Jahre hinweg 213 Millionen Euro bewilligte; eine Bilanz will die Bildungsgewerkschaft GEW diese Woche vorstellen. Zugleich, merkte kürzlich eine Analyse des MDR an, steckte er aber in nur einem Jahr 231 Millionen in die Schuldentilgung.
Die beiden Zahlen illustrieren ein Grundproblem der CDU-geführten Politik in Sachsen. Das Land, das sich für seine sparsame Finanzpolitik als Musterknabe unter den Ost-Bundesländern feiert, fuhr jahrelang einen strikten Knauserkurs - und vergaß darüber, wofür man eigentlich spart. Unter dem Diktat des Finanzministers gab CDU-Ministerpräsident Stanislaw Tillich das Ziel aus, die Zahl der Landesbediensteten auf 70 000 zu senken. Die gravierenden Folgen sind in den Schulen zu sehen, den Gerichten und Behörden - und nicht zuletzt bei der Polizei, wo ein Viertel der 15 000 Stellen gestrichen werden sollte. Begründung: In einem Land, in dem weniger und ältere Menschen leben, werde die Kriminalität sinken. Ein Trugschluss: Die Zahl der Straftaten je 100 000 Einwohner stieg seit 2009 von 6665 auf 7950; Sachsen rutschte im Vergleich der Bundesländer vom vierten auf den elften Platz. Vor allem entlang der Grenzen zu Polen und Tschechien, wo Bürger und Firmen jahrelang unter einer hohen Zahl an Einbrüchen litten, ging das Sicherheitsgefühl in den Keller - und parallel dazu das Vertrauen in die Politik in Dresden.
Auch hier hat die Landesregierung mittlerweile umgesteuert, allerdings zu spät und zu zaghaft, sagen Kritiker. 1000 zusätzliche Stellen wurden bewilligt; die Gewerkschaft der Polizei hielte freilich das Dreifache für nötig. Sachsen, sagt ihr Chef Hagen Husgen, habe seine Polizei »tot gespart«. Er fordert zusätzliche Streifenwagen samt Besatzung für alle Reviere im Freistaat - und fürchtet, dass die neuen Stellen in zentralen Führungsstäben oder einem länderübergreifenden Abhörzentrum versickern. Dann, warnt er, bleibe man in Sachsen bei einer »Auftragspolizei«, die nur kommt, wenn sie gerufen wird - und nicht regelmäßig in den Dörfern nach dem rechten schaut.
In der Folge breitet sich dort das Gefühl aus, von der Politik vergessen worden zu sein. Viele Entwicklungen sind dabei keineswegs sächsische Besonderheiten. Der Mangel an Land- und Fachärzten, wie ihn eine Studie im Auftrag des Sozialministeriums im Herbst 2016 für die ländlichen Regionen voraussagte, trifft andere Flächenländer ähnlich. Auch Defizite in der Nahversorgung, die eine Untersuchung schon 2006 konstatierte, gibt es in der Oberlausitz ebenso wie in der bayerischen Oberpfalz. Für Sachsen beobachtete das Papier »Versorgungsdefizite« in 42 Prozent der Gemeinden mit unter 2000 Bürgern, die ihren täglichen Bedarf in der Folge nicht mehr im Wohnort decken konnten. Dass Busse nur noch in den Ferien verkehren, Bahnlinien stillgelegt und Kneipen zugeschlossen werden; dass Kleinstadttheater abgewickelt werden und Vereine aufgeben, weil kein Mitglied mehr unter 70 ist - all das unterscheidet das Erzgebirge wohl nicht wesentlich von der Eifel.
Ein sächsisches Spezifikum ist es aber vielleicht, dass Bürger aus Erfahrung empfindlich reagieren, wenn sich ihre Staatsregierung permanent rühmt, blühende Landschaften geschaffen zu haben, während sie selbst beim Blick aus dem Fenster eher verdorrende Landstriche wahrnehmen. Die Aufforderung zum Gegensteuern gibt es schon lange. Die Kommunen haben erst vorige Woche wieder darauf hingewiesen, dass sie vom Land finanziell an einer zu kurzen Leine gehalten werden. Sie erreichen nur 87 Prozent des deutschen Durchschnitts bei den Einnahmen, in anderen Ostländern sind es 89, in finanzschwachen Westländern 91 Prozent. Die LINKE forderte kürzlich ein Maßnahmepaket für »Regionengerechtigkeit« in Sachsen und drängte auf schnelle Schritte für flächendeckende Verbesserungen bei Nahverkehr und Internetanschlüssen, medizinischer Versorgung und Wohnen. Die Unzufriedenheit vieler Bürger, sagte Fraktionschef Rico Gebhardt, gründe in der »Erfahrung, dass die Realität in Sachsen von gleichen Lebensverhältnissen überall immer weiter entfernt« sei. Die Erkenntnis setzt sich nun offenbar auch bei der CDU durch, wie die Schwerpunktsetzung ihres designierten Chefs zeigt. Das Problem von Kretschmer ist freilich: Er steht vor einer Herkulesaufgabe - und hat kaum Zeit. Schon 2019 wird im Freistaat wieder abgestimmt - und zwar ausschließlich über Landespolitik.
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