Als wäre nichts gewesen

Nächster Abschiebeflug nach Afghanistan / Grundlage ist eine umstrittene Einschätzung des Auswärtigen Amtes

Abschiebungen nach Afghanistan sind ein hochriskantes Unterfangen. Schon seit geraumer Zeit gibt es die Anweisung der Bundesregierung an die beteiligten Polizisten, den Flughafen in Kabul möglichst nicht zu verlassen. Ein Besuch des US-Verteidigungsministers James Mattis im September zeigte aber, dass selbst der Airport kein sicherer Ort mehr ist. Nachdem Mattis gelandet war, schlugen mehr als ein Dutzend Raketen auf dem Flughafengelände ein, es gab mehrere Tote. Mattis selbst war zu diesem Zeitpunkt schon mit einem Hubschrauber abgereist.

Die Bundesregierung hält trotzdem daran fest, ausreisepflichtige Afghanen per Sammelabschiebung auszufliegen. Bislang gab es seit Dezember 2016 sechs solcher Charterflüge, am Dienstagabend sollte vom Flughafen Leipzig/Halle ein weiterer hinzukommen - nach übereinstimmenden Informationen von Anwälten und Flüchtlingsorganisationen, die von den laufenden Vorbereitungen erfahren hatten. Das Bundesinnenministerium kündigt grundsätzlich keine geplanten Sammelabschiebungen an, um den Erfolg der Rückführung nicht zu gefährden, wie es heißt.

Demonstrant verurteilt

Nürnberg. Weil er bei einem gescheiterten Abschiebeversuch der Polizei an einer Nürnberger Berufsschule, einen Beamten verletzt hat, ist ein 22-Jähriger zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden.

Das Amtsgericht sprach den Angeklagten am Dienstag wegen Widerstands und Angriffs gegen Vollstreckungsbeamte, Körperverletzung sowie versuchter Gefangenenbefreiung schuldig und verhängte eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren auf Bewährung. Der 22-Jährige, der seit dem Vorfall im Mai in Untersuchungshaft saß, hatte die Vorwürfe zuvor weitgehend eingeräumt.
Bei dem Abschiebeversuch sollte ein Schüler aus Afghanistan von der Polizei abgeholt werden. Um ihn zu schützen, blockierten rund 300 Menschen den Einsatz. dpa/nd

Der Chef der Innenministerkonferenz, Sachsens Ressortchef Markus Ulbig (CDU), verteidigte das Vorgehen von Bund und Ländern. Er wies darauf hin, dass sich die Innenminister im Juni darauf verständigten, Gefährder, Straftäter und Ausreisepflichtige, die eine Mitwirkung bei der Feststellung der Identität verweigern, trotz der angespannten Sicherheitslage auszufliegen. Ulbig nannte diesen Entschluss «vernünftig». Er berief sich auch auf das Auswärtige Amt, das im Juli ein weiteres Mal bestätigt hatte, «dass unter Berücksichtigung der Umstände jedes Einzelfalls eine Abschiebung in bestimmte Regionen verantwortbar und möglich ist».

Zu einer ganz anderen Einschätzung kommt das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen (UNHCR), das im Dezember 2016 erklärte, die Sicherheitslage habe sich in dem Land noch einmal deutlich verschlechtert. Erst in der vorigen Woche suchte das Land eine landesweite Anschlagserie von islamistischen Attentätern heim, die mehr als 200 Tote forderte.

Gegen den neuerlich geplanten Abschiebeflug nach Kabul fanden seit dem Wochenende in Leipzig Proteste statt, zu der die Initiative «Zendegi» aufgerufen hatte. Am Dienstagmorgen demonstrierten rund 150 Menschen am Flughafen Leipzig/Halle, daran beteiligte sich auch die LINKEN-Politikerin Juliane Nagel: «Wir wissen nicht, wer in der Maschine sitzt, aber auch Strafgefangene dürfen nicht Gefahren ausgesetzt werden», sagte die sächsische Landtagsabgeordnete.

Ob sich Bund und Länder an die selbstgesteckte Vorgabe halten, nur Straftäter, Gefährder und Identitätsverweigerer abzuschieben, ist nur schwer zu überprüfen. Weil die an der Abschiebung beteiligten Behörden vorweg keine Auskünfte geben, ist unklar, wie viele Afghanen dieses Mal abgeschoben werden und wer dies sein wird.

In mindestens einem Fall gibt es Zweifel, ob die entsprechenden Vorgaben eingehalten werden. Die Berliner Anwältin Myrsini Laaser berichtete gegenüber dem NDR von einem Betroffenen, der am vergangenen Mittwoch in Abschiebehaft genommen worden sei, obwohl er weder Straftäter noch Gefährder sei; auch seine Identität sei zweifelsfrei festgestellt worden, so die Anwältin. Das gehe laut NDR auch aus dem Haftbefehl hervor: Gegen den Mann, der seit zwei Jahren in Deutschland lebt, lägen keine strafrechtlichen Ermittlungsverfahren vor. Die Anwältin befürchtet, dass ihr Mandant in Afghanistan rasch in Gefahr geraten könne, weil er zur Volksgruppe der Hasara gehöre, die eine besonders gefährdete Minderheit in Afghanistan ist. Islamisten verübten häufig gezielt Anschläge auf Hasara. Zwar habe der Mann die afghanische Staatsangehörigkeit, erklärte Laaser, er sei aber in Iran aufgewachsen und habe nie in Afghanistan gelebt. «Ich gehe davon aus, dass jemand, der noch nie in Afghanistan gewesen ist und dort auch keine Familie hat, auf deren Unterstützung er zurückgreifen kann, nicht in der Lage sein wird, dort zu überleben.» Warum der Mann abgeschoben werden soll, bleibt unklar. Das zuständige bayerische Innenministerium teilte mit, generell nur ausreisepflichtige Geflüchtete abzuschieben, zu Einzelheiten einer geplanten Sammelabschiebung aber keine Aussagen zu machen.

Trotz der unsicheren Lage am Hindukusch ist die Schutzquote bei afghanischen Asylbewerbern zuletzt gesunken. Im Jahr 2015 lag die sogenannte bereinigte Anerkennungsquote noch bei 77,6 Prozent, im vergangenen Jahr nur noch bei 60,5 Prozent. Rund 12 800 ausreisepflichtige Afghanen gab es im Februar dieses Jahres.

Seit der ersten Sammelabschiebung im Dezember wurden 115 Afghanen ausgeflogen. Die Betroffenen kamen dabei nicht immer in sichere Regionen, wie die Bundesregierung vorgibt - der Afghanistan-Experte Thomas Ruttig zählte bei den ersten drei Abschiebeflügen 28 Personen, die aus unsicheren Provinzen stammen. Ruttig hatte hierzu eine Antwort der Bundesregierung auf eine Grünen-Anfrage ausgewertet. «Was zählt ist, dass abgeschoben wird», konstatierte er, «weil man es innen- und wahlpolitisch zu ›verkaufen‹ trachtet.

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