Vergewaltigung in drei Sätzen erklären

In der Auseinandersetzung um sexualisierte Gewalt muss zwischen allen Beteiligten noch einiges geklärt werden

  • Elsa Koester
  • Lesedauer: 10 Min.

Scheiße, es nützt nichts, wir müssen reden. Als es mit #metoo los ging, stöhnte ich wie viele andere Feministinnen auf: Nicht schon wieder. Nach #notok und #Aufschrei gehen schon wieder tausende Geschichten über sexuelle Belästigung herum. Reicht es nicht langsam? Hat nicht längst der letzte Macho begriffen, dass sexuelle Gewalt ein Massenphänomen ist, unter dem die Mehrzahl der Frauen ernsthaft leidet? Wir müssen weiterkommen, über das reine Erzählen hinauskommen, haben viele von uns gesagt. Es muss jetzt darum gehen, Männer in die Verantwortung zu zwingen – nicht nur die Täter im engeren Sinne, sondern auch die Mitglieder einer Gesellschaft, die diese sexistische Kultur reproduzieren. Es ist jetzt Zeit, raus aus den Safe Spaces zu kommen, um die Öffentlichkeit zu erobern. Es ist an der Zeit, dass sich Betroffene nicht nur in ihrer Betroffenheit bestätigen, sich nicht nur zum Kämpfen ermuntern, sondern wirklich breite Politik machen: Indem sie in die Diskussion mit allen Beteiligten gehen. Darunter eben mit Männern, die es verstehen, aber auch mit solchen, die es noch nicht verstehen, und vielleicht sogar mit jenen, die es nicht verstehen wollen. Politik heißt, Gesellschaft zu verändern. Also rein in die Debatte.

So. Nun haben wir den Salat. Nach der ersten #metoo-Welle, in denen tausende Geschichten über sexuelle Belästigung und sexualisierte Gewalt über soziale Medien die Runde machten, von Prominenten wie auch von nicht nicht so exponierten Frauen – und einzelnen Männern - melden sich nun jene zu Wort, die so etwas zwar noch nie erlebt haben, aber auch etwas dazu sagen wollen. Und plötzlich sind auf »Zeit Online« nicht mehr die Geschichten der Frauen meistgelesen, sondern die der Männer. Christian Gesellmann schreibt darüber, wie eine Frau darum bettelte, mit ihm zu schlafen – was er aber verwehrte, einerseits unangenehm berührt, andererseits heldenhaft die Notsituation der Nachbarin nicht ausnutzend. Thomas Fischer schreibt darüber, dass Gewalt, Grenzüberschreitungen und Missbrauch voll normal sind und fordert Frauen auf, doch bitte zu erklären (in drei Sätzen), was das besonders Schlimme an Vergewaltigung ist, so im Vergleich zum anderen Formen körperlicher Gewalt. Tomasz Kurianowicz schreibt über seine Verunsicherung. Gleichzeitig kommen Kollegen zu mir, Freunde, Familie, viele Männer, sie kommen in den Pausen, in der Kneipe, per Mail, und wollen auch mal hören: Was kann ich tun? Aber auch: Ist es denn wirklich so schlimm? Ist es denn schlimmer als das, was wir alle nun einmal durchmachen? Hinter diesen Fragen spüre ich die Aufforderung: Erklärt euch! Legitimiert den Raum, den ihr euch mit #metoo nehmt! Habt ihr ihn verdient?

Nochmal zur Erinnerung: Das wollte ich! Ja, das wollte ich. Wenn wir Sexismus und Patriarchat wirklich auf breiter, gesellschaftlicher Ebene bekämpfen wollen, und nicht nur in feministischen Nischen, dann müssen wir Männer als »Komplizen« gewinnen. Dann müssen wir kommunizieren, streiten, erklären, widersprechen, nachdenken. Wir müssen uns mit den Beiträgen der Männer auseinander setzen, auch wenn sie wieder die Meistgelesenen sind, auch wenn ihre Stimme wieder lauter ist, ihr Wort wieder so schwer wiegt, dass es im Mittelpunkt steht. Wir kommen daran nicht vorbei. Also los. Welche Sichtweisen und Argumente stören mich in dieser Diskussion zutiefst?

1. »Jeder Pups ist für euch sexuelle Belästigung«

Ein Argument, das mir derzeit häufig begegnet und das auch in Thomas Fischers Beitrag eine große Rolle spielt: »#metoo macht keinen Unterschied zwischen Vergewaltigung, sexueller Gewalt und harmloseren Formen der sexuellen Belästigung«. Ich sehe: Hier wird etwas ganz Grundsätzliches nicht verstanden. Bei #metoo geht es eben gerade deshalb um die gesamte Bandbreite sexueller Übergriffe, weil sie Ausdruck einer ganzen Kultur sind, die Frauen objektiviert: einer »rape culture«, dieser Begriff hat sich im englischsprachigen Raum entwickelt. Der blöde Witz über Titten, der schnelle Griff an den Po, das schnelle Onanieren vor einer Frau ohne ihre Einwilligung, der gewaltsame Griff zwischen die Beine oder das gewaltsame Eindringen in die Vagina: Die Übergänge von sexueller Belästigung zur Vergewaltigung sind erstens fließend. Und zweitens sind all diese Beispiele Ausdruck einer Kultur, die darauf beruht, Frauenkörper als Instrument zur Befriedigung (männlicher) sexueller Bedürfnisse anzusehen.

Wer scheinbar harmloser wirkende Geschichten sexueller Belästigung von diesem Kontext entkoppelt, begreift die Maßstäbe nicht, über die wir hier sprechen. »Wenn man die Berichte über veritable Straftaten abzieht, bei denen man sich allenfalls fragen kann, warum sie nicht angezeigt wurden«, schreibt Fischer, »bleibt allerdings ein ziemlich überwältigender Anteil an etwas schrägen, gelegentlich auch rührenden Geschichten.« Es ist so: Wenn eine Frau schon einmal die Erfahrung gemacht hat, erst blöd angemacht, dann blöd angefasst, und dann ernsthaft sexuell verletzt worden zu sein, dann fühlt sich die nächste blöde Anmache gleich ganz anders an. Dieser Erfahrungshorizont wird Studien zufolge von jeder dritten bis vierten Frau geteilt, andere kennen die Gefahr aus den Geschichten ihrer Freundinnen oder aus Film und Fernsehen. Die Prekarität der eigenen Sexualität und des eigenen Körpers ist Frauen jederzeit bewusst. Und eine sexuelle Belästigung, die für Unerfahrene (wie die meisten Männer) harmlos aussieht, jagt einer überwältigend großen Zahl von Frauen die nicht abwegige Angst ein, dass es dabei nicht bleiben wird.

Nun muss ich Fischer insofern Recht geben, als dass die meisten #metoo-Autorinnen nicht über Erfahrungen mit schwerwiegender sexueller Gewalt berichten. Ich selber habe es bislang nicht gewagt, meine Erfahrungen mit sexueller Gewalt öffentlich kundzutun. Es ist einfacher, die vielleicht besser verdaulichen Erlebnisse – ein Fremder hat ungewollt vor mir am See onaniert und sich dabei an mir aufgegeilt, ein Typ hat mir in der Disko an die Brust gefasst, einer hat mir die Zunge in den Hals gesteckt, obwohl ich nicht wollte –, diese scheinbar »harmlosen« Stories zu erzählen, wie es derzeit tausende Frauen tun. Die schwerwiegenden Geschichten behalten die meisten für sich, ich auch, zu verletzt bin ich noch immer, zu viel Angst habe ich vor den Reaktionen, und ich frage mich: Geht es denn jeden an?

Diese Zurückhaltung ist natürlich problematisch, denn selbst diese massive #metoo-Welle offenbart durch solche Zurückhaltungen nicht das ganze Ausmaß an sexueller Gewalt. Also glaubt uns einfach, Unerfahrene: Das, was ihr gerade im Netz lest, ist immer noch nur die Spitze des Eisbergs. Wir leben in einer Vergewaltigungskultur. Sexuelle Belästigung ist nur ein recht oberflächlicher Teil davon.

2. Von wegen Opfer, ihr elenden Opportunistinnen

Ein Vorwurf, den ich zuerst bei den rechten Breitbart-Männern gefunden habe, auf die ich jetzt aber immer häufiger treffe: Frauen spielen das Spiel doch mit. »Vorkämpferinnen haben gar bekannt, dass ihnen vor zehn Jahren bei einer Preisverleihung ein greiser Großschauspieler die Hand auf eine Hinterbacke legte, sie sich anschließend aber gleichwohl lächelnd mit ihm durch den Abend herzten, weil sie einfach zu traumatisiert waren, um die Gala zu stören«, schreibt Fischer. Für ihn ist klar: Da geht es nicht um Traumatisierung, sondern um Opportunismus.

Klar sind Frauen in dieser Gesellschaft genau so opportunistisch wie Männer, keine Frage. Muss man denn ein rundum perfekter Mensch sein, um sexuelle Belästigung anprangern zu dürfen? Vielleicht war es nicht nur die Traumatisierung, die manche Frauen dazu trieb, lieber nichts zu sagen. Ja, vielleicht waren sie einfach zu sehr an ihrer Karriere interessiert, um sie mit einem Grabscher-Outing eines wichtigen Vorgesetzten, eines einflussreichen Politikers oder Produzenten zu zerstören. Natürlich ist das der Grund, warum viele Frauen ihre Belästiger oder Vergewaltiger nicht anzeigen oder outen: Das könnte das Ende ihrer beruflichen Laufbahn, ihres Freundeskreises, ihres Alltags bedeuten. Ist das moralisch so verwerflich? Frauen verdienen nun einmal weniger, sie stehen auf der Karriereleiter tiefer als Männer, sie haben weitaus weniger einflussreiche Positionen inne.

93 Prozent der wichtigsten Regisseure in den USA sind Männer, 95 Prozent der Chefredakteure in Deutschland sind Männer, 77 Prozent der Professuren sind männlich besetzt. Diese einflussreichen Männer werden vermutlich eher nicht zugeben, dass sie gegrabscht, sexuell erpresst oder vergewaltigt haben. Und ihre Freunde, ebenfalls wichtige Männer, können erfahrungsgemäß auch nicht glauben, dass ihr Kumpel zu so etwas in der Lage wäre. Erfahrungsgemäß, das lernen Frauen früh, verlieren sie im Kampf um die Glaubwürdigkeit gegen ihre Vorgesetzten und deren Kumpels. Lohnt es sich, die eigene Lebensführung für solch ein Outing auf‘s Spiel zu setzen? Den Kampf gegen Opportunismus muss man sich erst einmal leisten können.

#metoo aber könnte dazu führen, dass sich mehr Frauen trauen, dieses Risiko einzugehen – und wenn es mehr werden, ist die Wahrscheinlichkeit auch höher, dass sie etwas bewirken. Denn, da gebe ich Fischer Recht: Namen zu nennen, wäre der nächste wichtige Schritt, Täter in die Verantwortung zu ziehen und Männern zu zeigen, wo sie unterstützen können.

3. Was ist eigentlich so schlimm an einer Vergewaltigung?

Die Frage, die mir nun ebenfalls mehrfach gestellt wurde, meist implizit, aber von Thomas Fischer ganz explizit: Ist sexuelle Gewalt überhaupt schlimmer als andere Formen körperlicher Gewalt, die auch viele Männer erleiden? Aus feministischer Perspektive wäre es eigentlich überaus spannend, diese Frage zu diskutieren. Was macht gerade die Vergewaltigung so weitaus beängstigender als die einfache Prügel, der auch jede dritte Frau weltweit ausgesetzt ist?

So, wie Fischer sie stellt, sollte sie aber nicht diskutiert werden. Fischer relativiert sexualisierte Gewalt. Er stellt sie neben viele andere Formen von Diskriminierung und Gewalt und fordert Betroffene auf, sich für den von ihnen genommenen Raum zu rechtfertigen: »Können Sie, liebe Fern-Traumatisierte, mir in drei kurzen Sätzen erklären, warum es schlimmer ist, an den Genitalien berührt zu werden, als mit aller Kraft ins Gesicht oder mit Gegenständen auf den Körper geschlagen zu werden?« Nein, ich werde nicht anfangen zu argumentieren, warum das eine oder das andere schlimmer ist. Wozu auch? Es gibt keine Konkurrenz im Leiden.

Das Leid nach einer Vergewaltigung mit dem nach nicht-sexualisierter Gewalt zu vergleichen, ist etwa genau so abwegig, wie Klassenungleichheit gegen Geschlechterungleichheit auszudiskutieren. Anders gesagt: Wenn ich aufhöre, über sexualisierte Gewalt zu sprechen, werden andere Formen von Gewalt und Unterdrückung dadurch nicht stärker thematisiert. Fischer stellt uns da eine Falle, hinter der eigentlich die Aufforderung steht: Wenn ihr anfangt, euch gegen Ungerechtigkeit zu wehren, dann rettet doch gefälligst die ganze Welt.

Die Enteignung des Körpers

Einen Gedanken zum Unterschied zwischen sexualisierter körperlicher Gewalt und nicht sexualisierter körperlicher Gewalt möchte ich dennoch los werden: In beiden Fällen werden körperliche Grenzen überschritten und die Betroffenen nicht nur körperlich, sondern auch seelisch verletzt. Sexualität wird jedoch sehr aufgeladen diskutiert und wahrgenommen. Scham spielt hier eine zentrale Rolle. Die Sexualität wird noch immer als hohes Gut wahrgenommen, das Frauen besitzen, mit dem besten Tauschwert, größer noch als ihre Arbeitskraft. Begriffe von der »entehrten« Frau, der »gefallenen« Frau, der »leichten« oder »billigen« Frau zeugen von einer Kultur, in der die weibliche Sexualität erhöht wird. Wenn Frauen nicht genug auf ihre Sexualität aufpassen und ein Mann sich ihren Körper einfach nimmt, wurde ihr Körper nicht nur verprügelt, angegriffen und verletzt. Der Mann hat sich daran bedient. Ihn sich genommen wie ein Bonbon aus einem Bonbonglas. Nach einem Erlebnis der sexualisierten Gewalt fühlt es sich an, als sei einem der eigene Körper enteignet worden.

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