Ein Nazi-Jäger
Es war wahrscheinlich schon die dreißigste Vernehmung in diesem Ermittlungsverfahren, dennoch lag wie immer eine gewisse Spannung in der Luft, als wir an einem heißen Julitag des Jahres 1989 im 27. Stock in den Räumlichkeiten des Generalkonsulats in der 57. Straße in New York auf eine Zeugin warteten. Wir, das waren der stellvertretende Generalkonsul, der die Vernehmung leiten sollte, Rechtsanwalt König als Verteidiger des noch in Argentinien inhaftierten Beschuldigten Josef Schwammberger, der Dolmetscher, der außer Englisch, Deutsch und Polnisch auch Jiddisch beherrschte, und ich als ermittlungsführender Staatsanwalt. Vielleicht war die Spannung sogar noch etwas größer als sonst, denn aus den Vorakten wussten wir, dass die ältere Dame, auf die wir warteten, nicht nur Augenzeugin schrecklicher Verbrechen gewesen war, sondern bei der Auflösung des Arbeitsghettos der polnischen Stadt Przemysl durch die SS im September 1943 ihre gesamte Familie, elf Geschwister und die Eltern, zum letzten Mal gesehen hatte. Mehrere Tausend Menschen - niemand weiß die genaue Zahl - wurden an jenem Tag entweder an Ort und Stelle erschossen oder in verschiedene Lager verbracht, aus denen sie nicht mehr zurückkehrten.
Wie würde die Zeugin reagieren, wenn sie Einzelheiten darüber erfuhr, wer wir waren und was wir wollten? Würde die 72-Jährige sich noch erinnern? Würde sie überhaupt mit uns sprechen wollen? Würde sie sich weigern, das über Jahrzehnte hinweg verdrängte Geschehen noch einmal zu rekapitulieren und sich damit all das Schreckliche noch einmal zu vergegenwärtigen?
Aus dem Prolog von Kurt Schrimm zu seinem Buch »Schuld, die nicht vergeht. Den letzten NS-Verbrechern auf der Spur« (Heyne, 400 S., geb., 22 €).
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