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  • »Reise nach Jerusalem - 141 Tage warten auf Grünstein«

Ja, der Holocaust

»Reise nach Jerusalem - 141 Tage warten auf Grünstein« im Theater unterm Dach

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 5 Min.

»Holocaust« - nur an einer einzigen Stelle ist davon die Rede, und auch das nur ganz am Ende, als Lena, die Freundin von Judith, dabei ist, ihr Grünstein am Küchentisch wegzuschnappen. »Ja, der Holocaust«, sagt die Nachbarin von Judith, als Grünstein, dessen Vornamen wir nicht erfahren, über die Ursachen des Nahost-Konflikts doziert. Da hat sich Grünstein aber wohl schon in Lena verguckt und lässt Judith, die sich doch so sehr nach einer Beziehung mit ihm sehnt, einfach links liegen - und sie mit ihren mühsam erworbenen Hebräisch-Kenntnissen, dem hart erarbeiteten Wissen um jüdische Sitten und Gebräuche, dem Ringen um Verständnis für die israelische Politik gegenüber den Palästinensern alleine in ihrer Wohnung zurück.

Man kann diese Situation so interpretieren: Auch mehr als 70 Jahre nach dem von Deutschen industriell betriebenen Massenmord an den europäischen Juden ist Normalität in den Beziehungen zwischen Juden und Nicht-Juden in Deutschland nur unter Mühen möglich. Noch in der dritten Generation steht dieses Wort »Holocaust« wie eine Mauer zwischen den Menschen. Auf beiden Seiten tragen wir die Last der ständigen Erinnerung mit uns herum. Man kann diese Begegnung an Judiths Küchentisch aber auch ganz politikfrei als verkrampften Versuch von alleinerziehenden Großstädtern im besten Alter interpretieren, noch vor Torschluss einen neuen Partner zu ergattern.

Das Stück »Reise nach Jerusalem - 141 Tage warten auf Grünstein«, das kürzlich Premiere im Theater unterm Dach feierte, geht zurück auf den gleichnamigen Roman (2005) der Berliner Autorin Miriam Sachs, die das Stück auch inszenierte und die weibliche Hauptrolle spielt. Den männlichen Part verkörpert der Berliner Schauspieler und Musiker Karsten Troyke. Die Mitwirkung von Troyke ist ein Gewinn, und das nicht nur wegen dessen dröhnender Bass-Stimme. Troyke, der sich mit seinen jiddischen Chanson-Programmen und als Interpret von Liedern Georg Kreislers auch international einen Namen gemacht hat, entspannt mit seinen gelegentlichen sarkastischen Zwischenrufen und seinen Liedern die immer wieder vom Nahost-Konflikt verspannte Atmosphäre.

Am Beginn sowohl des in Tagebuchform geschriebenen Romans wie auch des Stücks steht ein ganz privater Konflikt: Judith (Miriam Sachs), 30 Jahre alt und alleinerziehend mit zwei Kindern, kämpft mit ihrem Ex-Freund Theo um das Sorgerecht und um die 80 Quadratmeter gemeinsamen Wohnraums. Und weil Theo (Karsten Troyke) nicht einsehen will, dass er die Wohnung verlassen soll, teilt Judith diese auf der Bühne mit weißer Kreide in zwei Teile: diesseits der Demarkationslinie ist ihr Refugium, jenseits das Reich von Theo.

Das Bühnenbild (Miriam Sachs) ist sparsam: zwei Stühle, ein Karton, ein Notebook, ein transparenter weißer Vorhang. Davor und dahinter spielt sich der Nahost-Konflikt im Kleinen ab. Die Paartherapie scheitert, weil keiner den anderen ausreden lässt und man schon gar nicht sich gegenseitig zuhören will. Verständnis: Fehlanzeige. Dafür verliert sich Judith immer mehr in eine Scheinwelt. Auf dem Spielplatz hat sie Grünstein kennengelernt, den Vater von Gila, der besten Kita-Freundin ihrer Tochter Marie. Grünstein erinnert sie an Alan Alda, den Schauspieler aus ihrer Lieblings-TV-Serie »M*A*S*H.« Grünstein ist wie sie alleinerziehend, und er ist Jude. »Hieße ich auch so«, schreibt Judith in ihr Tagebuch, »wäre mein Name Judith Grünstein. Jeder würde denken, ich sei jüdisch. Ich würde mir eine spitzgerandete, weiße Sonnenbrille kaufen und in ein paar Jahren riesige Perücken tragen.«

Judith beginnt, sich für alles Jüdische zu interessieren; sie lernt Hebräisch, geht in die Synagoge, beginnt koscher zu kochen. Und das alles in Grünsteins Abwesenheit, denn der ist mit Tochter Gila bei der Familie in Tel Aviv. In den Bühnen-Monologen kämpft Judith mit ihren Zweifeln an der Zuneigung Grünsteins; sie versucht, den Nahost-Konflikt in all seinen komplexen und komplizierten Ursachen vorurteilsfrei zu reflektieren, und erzählt stolz von all dem Wissen, das sie sich im Laufe der Monate, in denen sie auf die Rückkehr von Grünstein wartet, über Israel, die jüdische Geschichte und die jüdische Religion angelesen hat. Aber Grünstein bleibt immer nur das: abwesend und Objekt einer Vorstellung von Judentum. »Orthodox ist er jedenfalls nicht«, sagt Judith, als sie ihn an einem Samstag anruft und er den Hörer abnimmt.

Irgendwann ist Ex-Freund Theo ausgezogen, Judith allein in der Wohnung und Grünstein wieder zurück in Berlin. »Morgen kommt Grünstein zu mir!«, schreibt Judith in ihr Tagebuch. Damit verbunden die Hoffnung, es möge so kommen, wie von ihr ersehnt. Doch den Kuss wird es nicht geben, die Intimität wird sich am Ende nicht herstellen. Dabei hatte Judith sich doch so bemüht; sogar koscheren Wein vom Golan hat sie gekauft und demonstrativ auf dem Tisch platziert. Und dann klingelt die Nachbarin Lena, setzt sich ungefragt mit an den Tisch, öffnet die oberen Knöpfe der Bluse und macht mit ihren unbeholfenen Bemerkungen alles kaputt. »Wein vom Golan«, sagt sie, das sei doch eigentlich Syrien oder Ägypten? Oh, sorry, sie kenne sich das so wenig aus, sagt sie kichernd. Und einige Zeit später: »Ja, der Holocaust.« Und Grünstein? Der lächelt.

Weitere Aufführungen in Berlin geplant; nächster Spieltermin außerhalb Berlins: 4. November, Theater im Viertel, Saarbrücken.

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