Zurück in die Zukunft

Das Kohle-Ausstiegskonzept der Denkfabrik Agora setzt auf Konsens aller Akteure - und althergebrachte Ideen

  • Jörg Staude
  • Lesedauer: 4 Min.

Wer auf der Schiene von Berlin nach Cottbus, die ehemalige Großstadt der brandenburgischen Kohleregion, reist, rumpelt mit dem Zug ab Lübbenau und die folgenden 30 Kilometer über eine eingleisige Strecke. Das zweite Gleis wurde kurz nach 1945 als Reparationsleistung abgebaut. Seitdem geistern - ob vor oder nach der Einheit - Pläne durch die Lande, das Nadelöhr wieder mit einem zweiten Gleis auszustatten. Zuletzt vereinbarten die Deutsche Bahn und das Land Brandenburg im März 2016 den Wiederaufbau des zweiten Schienenstrangs. Baubeginn? Möglicherweise 2023.

Vielleicht geht das mit dem zweiten Gleis aber auch schneller. Das Vorhaben findet sich nämlich auch in dem unlängst vom Thinktank Agora Energiewende vorgestellten Konzept »Eine Zukunft für die Lausitz« wieder. Das Papier knüpft an die Agora-Kohleauslaufstudie an, in der für alle drei Kohlereviere Deutschlands - Rheinland, Leipzig/Halle und Lausitz - 250 Millionen Euro jährlich vom Bund gefordert werden, um den Strukturwandel beim Ausstieg aus der Kohleverstromung zu bewältigen.

Finanzielle Dimension unterschätzt

Cottbus. Kritik an dem von der Agora Energiewende GmbH am 19. Oktober in Cottbus vorgestellten Konzept für einen Lausitzer Strukturfonds kommt von der Lausitz Energie Bergbau AG und Lausitz Energie Kraftwerke AG (LEAG). Dieses greife mit Blick auf die vorhandene Wertschöpfung in der Braunkohlenindustrie zu kurz, heißt es in einer Stellungnahme des Energieunternehmens.

»Die finanziellen Dimensionen werden von Agora völlig unterschätzt«, erklärte LEAG-Vorstandschef Helmar Rendez. »Wer behauptet, Strukturwandel in der Lausitz ohne die Braunkohle wirtschaftlich erfolgreich und sozial verträglich mit 100 Millionen Euro pro Jahr bis 2035 gestalten zu können, hat an der Region vorbeigeplant.«

Für völlig unzureichend hält Rendez die von der Agora vorgesehenen 25 Millionen Euro pro Jahr zur Bewältigung des Braunkohleausstiegs. »In den letzten zehn Jahren hat die Lausitzer Braunkohlenindustrie durchschnittlich in jedem Jahr 900 Millionen Euro an Aufträgen in die Wirtschaft vergeben. Dazu kommt eine jährliche Lohnsumme von einer halben Milliarde Euro. Rund 1,4 Milliarden Euro pro Jahr«, betonte er. Und das seien nur die direkten Wertschöpfungseffekte der bestehenden industriellen Strukturen.

»Die 1,5 Milliarden Euro, die Agora für die Jahre 2019 bis 2034 vorschlägt, stehen in keinem Verhältnis zu der Wertschöpfung der Braunkohle«, warnte der LEAG-Vorstandschef. »Den von Agora behaupteten Grundkonsens in der Region zu diesem Vorschlag gibt es nicht. So gab es auch keine Diskussion mit unserem Unternehmen«, merkte Rendez an. nd

Anteilig bedenkt das Regionalkonzept das Lausitzer Revier ab 2019 und bis 2034 mit jährlich 100 Millionen Euro. Die Agora-Experten schlagen vor, die Summe mit je 25 Millionen auf vier Säulen zu verteilen:

  • Wirtschaftsförderung, um Strukturen jenseits der Braunkohle zu eta᠆blieren
  • Stärkung von Hochschulen und Forschungseinrichtungen, unter anderem durch Gründung eines Fraunhofer-Instituts
  • Errichtung und Modernisierung kommunaler und regionaler Infrastruktur wie Bahnstrecken und Straßen sowie Highspeed-Internet
  • Schaffung einer Zukunftsstiftung, um zivilgesellschaftliche Aktivitäten in der Region zu unterstützen

Auf jeden Fall ist das Zukunfts-Papier auf Konsens ausgelegt. Die 1,5 Milliarden Euro, die die Agora der Lausitz insgesamt zukommen lassen will, sind eine gute Offerte an die beiden betroffenen Länder Brandenburg und Sachsen. Deren Regierungen verlangen von 2019 bis 2024 vom Bund einen Ausgleich von »mindestens 1,2 Milliarden Euro« für Projekte zur Strukturentwicklung in der Lausitz über bereits verabredete In᠆frastrukturmaßnahmen hinaus.

Auch die jüngst in einer Studie des Vereins »Lausitzer Perspektiven« verbreitete Idee, die notorische Innovationsschwäche der Lausitz dadurch zu beheben, dass ein eigenständiges Fraunhofer-Institut in die Region kommt, hat Agora Energiewende aufgegriffen. Konkret soll es ein In᠆stitut »für die Dekarbonisierung der Industrie« mit Sitz in Cottbus sein.

Carel Mohn von den »Lausitzer Perspektiven« lobt das Streben nach Konsens und auch, dass bei der Agora-Studie »wirklich viele Akteure, von der Wirtschaft über die Forschung und die Kommunen bis zur Bürgergesellschaft, eingebunden waren und ihre Ideen und Anliegen eingebracht haben«. Für die Landesregierungen in Brandenburg und Sachsen und die künftige Bundesregierung seien die Vorschläge eine Chance, die sie nutzen sollten, sagt Mohn. »Es geht nicht mehr um das Ob eines Strukturwandels, sondern um das Wie.«

Unübersehbar ist vor allem auch das Bestreben der Agora, die Skeptiker des Kohleausstiegs in der Lausitz einzubinden. Schon der Begriff »Strukturwandel«, heißt es dazu in dem Papier, werde im Osten Deutschlands häufig als beschönigend wahrgenommen, weil Wandel »in der Vergangenheit zumeist als harter Strukturbruch mit katastrophaler Dynamik erlebt wurde«.

Dem Gefühl zuvorkommend, haben die Agora-Experten auch die seit Anfang 2017 von Lobbyisten aufgestellte Lausitz-Formel »Ein Gigawatt für ein Gigawatt« aufgegriffen. Danach soll je Gigawatt abgeschalteter Braunkohleleistung eine adäquate Erneuerbare-Energien-Anlage oder ein Stromspeicher installiert werden.

Dieses Versprechen eines völligen Ersatzes von Industrie durch Indus᠆trie ist, wie Bernd Hirschl vom Institut für Ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW) in Berlin einwendet, von altem Denken geprägt. Davor hatte der Professor schon im Sommer in einem Interview mit dem Portal klimaretter.info gewarnt. Die Verantwortlichen suggerierten damit, dass sie beim Strukturwandel nur eine vergleichbar große Industriestruktur akzeptieren. »Und wird diese nicht herbeigezaubert, dann werden sie sich auch weiter gegen das frühzeitige Abschalten der Braunkohleverstromung stemmen«, ist sich Hirschl sicher.

Die offensichtliche Vernachlässigung der Region zwischen Elbe und Neiße führt dazu, dass viele Lausitz-Papiere inzwischen von einem eigentümlichen Mix alter und neuer Ideen und Forderungen geprägt sind. Teilweise sind sie geradezu eine Fundgrube für Wirtschaftsnostalgiker. Das gilt auch für das Agora-Konzept.

So soll nach dem Willen der Agora-Experten nicht nur der Schienenweg nach Cottbus ausgebaut werden, sondern auch Dresden soll bahntechnisch näher an Bautzen und Görlitz gerückt werden. Die Bahnachsen in Nord-Süd- und Ost-West-Richtung sollen elektrifiziert werden - als Voraussetzung für den Wiederanschluss der Lausitz an den Bahnfernverkehr.

Jahrzehntealt ist auch die Idee, das Know-how der Lausitz bei der Rekultivierung von Braunkohle-Tagebauflächen zu nutzen. Das wäre, meint der Thinktank Agora Energiewende, auch in anderen vom Bergbau geprägten Regionen im Ausland nutzbar, wenn sich die Transformation des Energiesystems international weiter durchsetzt.

Für den Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) in Brandenburg sitzen die eigentlichen Zauderer und Zögerer aber in Potsdam. Gerade die brandenburgische Landesregierung fahre eine Doppel-Strategie, kritisiert Michaela Kruse, Klimareferentin des Umweltverbandes. Wenn die Landesregierung Bundesmittel für den Strukturwandel verlange, könne sie nicht zugleich an der Braunkohle festhalten und den Wandel verhindern. »Erst wenn der Abschied von der Kohle klar ist, wird die Region an einem Strang ziehen«, sagt Kruse.

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