Deutschland (un)einig Einwanderungsland

Ob nun mit Gesetz oder ohne: Vom Asyl nicht berührte Migration in die Bundesrepublik ist seit Jahrzehnten Realität

  • Nelli Tügel
  • Lesedauer: 3 Min.

»Almanci! 50 Jahre Scheinehe« hieß ein Festival in der Kreuzberger Naunynstraße, das 2011 als kritisches Gegenprogramm zu den offiziellen Feierlichkeiten der Bundesregierung viel Aufmerksamkeit erregte. Diese Feierlichkeiten sollten an das erste Anwerbeabkommen erinnern, das 1961 zwischen der Bundesrepublik und der Türkei geschlossen worden war und dem weitere folgten. Und sie zeugten davon, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Widerwillig zwar, aber immerhin seit mehr als 50 Jahren. Im Türkischen wird für die nach Deutschland Eingewanderten das Wort »Almanci«, »Deutschländer«, gebraucht. Im deutschen Diskurs haben die Begriffe sich stetig gewandelt. Sie spiegeln den verdrucksten Umgang mit der Migrationsrealität. So wurden aus Gastarbeitern erst Ausländer und dann »Menschen mit Migrationshintergrund«.

Zunächst war der Gastarbeiter-Aufenthalt - das Wort verrät es - als vorübergehend gedacht; von Politik, Wirtschaft und den Gewerkschaften. Bis zum Anwerbestopp 1973 kamen 14 Millionen Menschen, vornehmlich aus Italien, Spanien, der Türkei, Portugal und Jugoslawien. Circa 20 Prozent blieben. Der Schriftsteller Max Frisch goss eine Erkenntnis dieser Zeit in sein berühmtes Bonmot: »Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen.«

Die Politik reagierte spät und vielfach abwehrend: Mit Rückkehrprogrammen, verweigerter Integration (bemerkenswert, wie dies Jahre später umstandslos in die Forderung nach unbedingter Integration umgewandelt wurde) und Gesetzen. Das erste Ausländergesetz (»Gesetz über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern im Bundesgebiet«) wurde 1965 auf den Weg gebracht, also zehn Jahre nach dem ersten Gastarbeiterabkommen mit Italien. 2005 wurde es durch das Zuwanderungsgesetz ersetzt. Erst Ende der 1970er Jahre wurde das Amt des Ausländerbeauftragten der Bundesregierung geschaffen, dessen Inhaber Heinz Kühn 1979 schließlich feststellte, dass aus Gastarbeitern wohl unumkehrbar Einwanderer geworden seien. Akzeptieren wollten das viele - gerade in der Union - nie so recht. Und lehnten auch deshalb ein Einwanderungsgesetz, das Migration in den Arbeitsmarkt grundsätzlich befürwortet, ab. Nicht nur die im Rahmen der Anwerbeabkommen eingewanderten Menschen aber straften die Behauptung, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei, immer wieder Lügen. Auch die mit der Europäischen Integration einhergehende Freizügigkeit tat dies. So stellen aus Polen stammende Menschen heute die zweitgrößte Einwanderergruppe dar.

Und im anderen deutschen Staat, der DDR? Sowohl Asyl als auch Arbeitsmigration gab es selbstverständlich auch hier. Die kleinste Gruppe in der DDR bildeten - wie auch in Westdeutschland - solche, denen Asyl gewährt wurde. Die größte Gruppe waren, neben ausländischen Studierenden und Angehörigen der sowjetischen Armee, ebenfalls Gastarbeiter, die im Rahmen von ab den 1960er Jahren geschlossenen bilateralen Verträgen in größerer Anzahl in die DDR gekommen waren, vor allem aus Mosambik, Polen, Vietnam und Angola. Die Zahlen stiegen in den 1980er Jahren stark an; 1989 lebten fast 100 000 Vertragsarbeiter in der DDR. Ganz ähnlich wie in der Bundesrepublik war Integration nicht Ziel der Politik, weil der Aufenthalt als befristet gedacht war. In den letzten Tagen der DDR änderte sich dies allerdings abrupt, als alle auf DDR-Boden lebende Menschen das Kommunalwahlrecht erhielten.

Rechtlichen Rahmen der Einwanderung in die DDR bildeten zwei Ausländergesetze: Die »Verordnung des Ministerrats über den Aufenthalt von Ausländern im Gebiet der DDR« von 1956 sowie das »Gesetz der Volkskammer über die Gewährung des Aufenthaltes für Ausländer« aus dem Jahr 1979. Das Recht auf Asyl war im übrigen - wie auch im Westen - in der Verfassung verankert. Dort hieß es, Asyl werde denen gewährt, die aufgrund des »Kampfes für die in dieser Verfassung niedergelegten Grundsätze im Ausland verfolgt werden«. Eine Modifizierung von 1976 machte aus dem Asylrecht unter bestimmten Bedingungen eine Kann-Bestimmung.

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