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Der Unterschied zwischen 158 und 165 getöteten Frauen

Auf einer Tagung diskutierten Feministinnen in Berlin über die Frage, wie wir patriarchale Gewalt bekämpfen können

  • Elsa Koester
  • Lesedauer: 4 Min.

»Dann haben wir hier noch die sechs Frauen dazu gezählt, die ihren Verletzungen erlegen sind, und hier, die Frau, die in Folge einer Brandstiftung durch ihren Partner gestorben ist.« Eva Risse von der zentralen Informationsstätte autonomer Frauenhäuser beugt sich über ihren Laptop, mit dem kleinen Pfeil fährt sie über verschiedene Einträge in einer Tabelle. Hinter den kryptischen Zahlenreihen verbergen sich Tote: Frauen, die 2016 auf verschiedene Arten umgebracht wurden. Von ihrem Partner. Von ihrem Ehemann. Oder von einem Mann, den sie gar nicht kannten.

Eva Risse ist Expertin für Femizide: Frauenmorde. Auf der Tagung »Keine Mehr« der Rosa-Luxemburg-Stiftung gab sie am Samstag den Workshop »Statistiken«. Dort erlernten die Teilnehmerinnen den komplizierten Umgang der Polizeilichen Kriminalstatistik, die das BKA jährlich herausgibt. Denn dort sind zwar alle getöteten Frauen aufgelistet – was aber unter Frauenmorden zu zählen ist, das ist eine Frage der Definition. So zählt die Polizei 369 versuchte und vollendete Tötungen von Frauen in Partnerschaften für das Jahr 2016, davon 158 Tote. Die Frauenhäuser aber kommen auf 376, davon 165 Tote. Eigentlich doch kein großer Unterschied – wozu dieser Kampf um die Zahlen? »Wir wollen jede einzelne Frau zählen, die getötet wurde«, betont Risse. »Dafür zählen wir, anders als die Polizei, auch Körperverletzung oder Brandstiftung mit Todesfolge in Partnerschaften mit. Wenn ein Mann eine Wohnung anzündet, in der sich seine Frau befindet, kann mir niemand erzählen, dass es da keinen Zusammenhang gibt.«

Frauenmorde als gesellschaftliches Problem sichtbar zu machen, das ist das erklärte Ziel der Plattform »Keine mehr«. »Es geht uns nicht um eine feste Organisation«, sagt die Mitinitiatorin Alexandra Wischnewski, feministische Referentin der Linksfraktion im Bundestag. »Wir sind alle schon gut organisiert. Uns geht es darum, uns zu vernetzen, um das Bewusstsein über Femizide in Deutschland zu vergrößern.« In Lateinamerika sei dies nicht mehr notwendig: Spätestens seit den Massenprotesten 2016 in Argentinien seien Frauenmorde dort auf die internationale politische Agenda gehoben worden.

Auch in Italien ist das Thema Gewalt an Frauen präsenter als in Deutschland. Über eine Skype-Schaltung diskutierten die Teilnehmerinnen mit der Initiative »Non una di meno« in Rom darüber, wie die Bewegung dort 2016 so stark wurde. Auslöser für die Massenproteste war der Mord an der Studentin Sara Di Pietrantonio. Ihr Ex-Partner hatte sie mit Benzin überschüttet und angezündet, die 22-Jährige verbrannte lebendigen Leibes. Auch in Italien kein Einzelfall: 2015 wurden dort 155 Frauenmorde gezählt. Die mediale Aufmerksamkeit für den brutalen Mord sorgte jedoch dafür, dass sich die Bewegung »Non una di meno« auf einem nationalen Treffen versammelte. Zu der Demonstration am 26. November – zum Tag gegen Gewalt an Frauen - kamen dann Tausende. Im Laufe des vergangenen Jahres erarbeiteten sie eine feministische Agenda: »Wir protestieren gegen Gewalt an Frauen – aber auch gegen die patriarchale Kultur, die dahinter steht«, erzählte die Aktivistin Tatiana aus Rom durch die brüchige Skype-Leitung. »Wir fordern daher nicht nur den Schutz vor Gewalt, sondern auch eine Bildung, die kritisch auf Geschlechterrollen eingeht, gleiche Löhne für alle Geschlechter und das Bleiberecht für Migrantinnen.«

In Berlin hörten die rund 60 Teilnehmerinnen den Schilderungen nicht ohne Neid zu. Wie kommt es, dass das Thema in Italien so viel präsenter ist als hier – obwohl sich die Statistiken ähneln? In dem Workshop zur medialen Berichterstattung über Gewalt an Frauen erarbeiteten die Feministinnen einen ersten Plan, um dies zu ändern. »Statt von ’Sexspielen’ oder ‘Familientragödie’ zu schreiben, müssen wir die Begriffe ‘Missbrauch’, ‘Mord’ und ‘Körperverletzung’ durchsetzen«, sagt Marlene Pardeller von der Plattform »Keine mehr«. »Die Frauenhäuser in Österreich haben dazu einen Leitfaden für Journalist*innen erarbeitet.« Verabredet wurde, die Leitlinien auch in Deutschland zur Verfügung zu stellen und einen Pool an angemessenen Fotos für die Bebilderung zu erarbeiten.

Am 25. November wollen feministische Gruppen auch in Berlin gegen Gewalt auf die Straße gehen. Dass sich viele auch aus eigener Betroffenheit engagieren, zeigte ein Plakat, das auf der Tagung gemalt wurde. Zu sehen ist der Umriss eines Frauenkörpers. Die Teilnehmerinnen zeichneten ein, wo sie schon einmal von einem Mann verletzt wurden. »Was mich am meisten berührt hat«, erzählt eine Teilnehmerin, »war, dass wir alle sofort anfingen zu malen. Alle! Es tut gut zu sehen, dass man mit dem Erleiden von Gewalt nicht alleine ist. Das ist eine kollektive Erfahrung.«

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