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- #Metoo und sexuelle Gewalt
Feminismus ist revolutionär - auch für Männer
We, too: Statt der #metoo-Debatte Hysterie vorzuwerfen, sollten sich alle Geschlechter beteiligen, meint Kolja Möller
Der zeitgenössische Feminismus richtet sich an alle, Männer und Frauen. Sein Ziel ist revolutionär, nämlich das tief in unserer Gesellschaft verankerte und seit Jahrhunderten gewachsene Machtverhältnis zwischen Männern und Frauen zu überwinden. Es erstreckt sich von der Aufteilung der Arbeit, über kulturelle Zuschreibung von Kompetenz und Autorität bis hin zur körperlichen Gewalt.
Die Berichte von Frauen unter dem Hashtag #metoo in den sozialen Medien genauso wie die jüngsten Enthüllungen von Übergriffen in Hollywoods Kulturindustrie sind nur der Gipfelpunkt einer strukturellen Gewalt, die in unserer Gesellschaft schon immer wirksam war und ist. Die Statistik spricht eine klare Sprache: Laut einer Studie der EU aus dem Jahr 2014 haben in Deutschland 35 Prozent der Frauen seit ihrem 15. Lebensjahr mindestens einmal sexuelle oder körperliche Gewalt erlebt. In der Statistik sind freilich Verletzungen nicht erfasst, die nicht auf den Körper der Frau, sondern auf ihre Seele zielen.
Kolja Möller ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsprojekt „Transnational Force of Law“ an der Universität Bremen. Er forscht zur politischen Soziologie, zur politischen Theorie und zur Staats- und Verfassungslehre. Jüngste Buchveröffentlichung: Formwandel der Verfassung. Die postdemokratische Verfasstheit des Transnationalen (transcript-Verlag, 2015).
Es ist also nicht unrealistisch, dass man als Frau zum Opfer männlicher Gewalt wird. Und es ist vollkommen realistisch anzunehmen, dass viele Männer vielleicht nicht selbst unmittelbare »Täter« sind, wohl aber in Komplizenschaft solche Handlungen in vielen Fällen übersehen oder decken. Das häufig beklagte Schweigen der Männer im Hinblick auf die jüngere Diskussion um sexuelle Gewalt hat deshalb durchaus einen Wahrheitskern. Denn es gibt hier tatsächlich etwas zu verschweigen.
Nun fühlt sich die Männerwelt von solchen statistischen Daten sichtbar irritiert. Die Welt des deutschen Feuilletons fragt danach, ob überhaupt noch Flirt, Gespräch oder gar Sexualität mit Frauen möglich sein kann, wenn man als Mann immer wieder an das Macht- und Gewaltgeschehen erinnert wird. Ein Deutungsmuster liegt auch in den aktuellen Debatten schnell zur Hand: weibliche Hysterie. Dem Feminismus wird das Unkontrollierbare, Übertriebene und Unberechenbare zugeordnet.
Die Geschichte der weiblichen Hysterie
Das Deutungsmuster ist erprobt und hat eine lange Geschichte. Schon in der frühen Neuzeit wurde das Moment der Unberechenbarkeit im politischen Leben einer Frau, der Glücksgöttin »Fortuna« zugeschrieben. Wie die Politikwissenschaftlerin Hanna F. Pitkin in ihrem Buch »Fortune is a Women« (University of Chicago Press, 1984) eindrucksvoll zeigt, findet eine kulturelle Spaltung statt: Die rationale Kalkulation und das Beständige im Staatswesen werden mit »Männlichkeit« in Verbindung gebracht. Und das, was die Staatsmänner (!) gleichsam begehren und fürchten – die »glückliche« Gelegenheit und der »unglückliche« Zufall – wird zum Genre des Weiblichen.
Von dort aus war es immer möglich, politisch aktive Frauen in genau zwei Rollen zu rücken, die man bis heute regelmäßig in den Artikeln der Leitmedien finden kann. Entweder werden politisch aktive Frauen als »Hexen« abqualifiziert, die (ganz im Gegensatz zu ihren überaus bescheidenen männlichen Kollegen) ihre Macht unkontrolliert steigern. Oder sie erscheinen als entscheidungsunfähige Schulmädchen, die von Emotionen getrieben sind. Und das könne sich in beiden Fällen bis ins Fanatische, ja »Hysterische« steigern – schreiben die Männer seit Jahrhunderten, wenn sie mit selbstbewussten Frauen konfrontiert sind.
Feminismus als Befreiung von Männern
Diese weit verbreitete Sichtweise der »Hysterie« ist nicht nur in die Gewaltordnung der Geschlechter verstrickt, sie lenkt auch von der im Feminismus angelegten, befreienden Option ab. Die feministische Option adressiert auch Männer: Sie besagt, dass ein Ende der Gewalt und der einseitigen Verletzung von Frauen in eine Neuordnung der Arbeitsteilung, der Kommunikationsbeziehungen und Rollenbilder führen kann.
Hier besteht auch für Männer die Möglichkeit, sich von repressiven Verhältnissen, Leid und der damit verbundenen Überforderung wirklich zu befreien. Das bleibt ein Wagnis für alle Beteiligten und sorgt für Irritation und Verunsicherung. Doch das ist eher eine gute Nachricht. Die befreiende Option wird nicht ohne die Krise der Männlichkeit, wie wir sie kennen, zu haben sein. Und wer sich unsicher fühlt, muss nicht das alte Lied von der Hysterie der Frauen anstimmen. Er kann sagen, dass er an einer Revolution teilhat – und, wie in jeder Revolution, erstmal die Wüste durchqueren muss: We, too.
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