Jeder Tag ist ein gewonnener Tag

Die Lebenserinnerungen eines österreichischen Kommunisten von Beruf und Berufung: Franz Marek

  • Erich Hackl
  • Lesedauer: 6 Min.

Vor Jahren hat Eric Hobsbawm ihn einen Helden des 20. Jahrhunderts genannt und sein Vorbild als ausschlaggebend für den Entschluss, über das Jahr 1956 hinaus in der Kommunistischen Partei zu bleiben. Gemeint ist Franz Marek, österreichischer Kommunist, Kind galizischer Flüchtlinge, geboren 1913 als Ephraim Feuerlicht. »Als ich diesen untersetzten, skeptischen, lakonischen, beeindruckend intelligenten Mann kennenlernte, war er noch ein führendes Mitglied der Partei, der er 1934 beigetreten war. Selbst beim Wandern im Wienerwald strahlte er eine Art selbstloses Charisma aus«, so Hobsbawm. »Aber er gehörte schon damals zur verlorenen Generation der reformorientierten ›Eurokommunisten‹. Nach dem Prager Frühling 1968 wurde er aus der Partei gedrängt und verlor die einzige bezahlte Stellung, die er seit seinem 20. Lebensjahr innegehabt hatte, die des Berufsrevolutionärs.«

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Nicht nur aus wissenschaftlichem Interesse, sondern auch mit großer Sympathie für einen Vergessenen haben nun zwei junge Historiker, Maximilian Graf und Sarah Knoll, eine Auswahl aus dessen hinterlassenen Schriften getroffen. Kernstück des in inflationärem Ausmaß mit Fußnoten bestückten Bandes bilden Mareks bisher nur auszugsweise veröffentlichten Lebenserinnerungen. Dazu kommen zwölf Aufsätze und Reden, die zwischen 1956 und 1968 entstanden sind und seine allmähliche Abkehr vom »Stalin-Mythos« und seine Suche nach einem demokratischen Sozialismus dokumentieren. Man liest sie nicht ohne Trauer um deren Vergeblichkeit - der Zusammenbruch des Realsozialismus bedeutete auch das Scheitern derjenigen, die sich um seine Erneuerung bemüht hatten.

Es ist unvermeidlich, dass die »Biografische Skizze«, die den Auswahlband eröffnet, Mareks Privatleben weitgehend ausspart: Er hatte die längste Zeit gar keines. Das Germanistikstudium in Wien hat er sich durch das Verfassen mehrerer Dissertationen für wohlhabende Kommilitonen finanziert und die Jahre von 1934 bis 1944 fast durchgehend in der Illegalität zugebracht - unter dem austrofaschistischen Regime als Agitpropleiter der KPÖ, im besetzten Paris als einer von drei Beauftragten der Travail Anti-Allemand, in der er wegen der Vorsicht des KPD-Vertreters Otto Niebergall (»dessen Funktion im wesentlichen darin bestand, mich einmal in der Woche zu treffen«) und der Verhaftung des tschechischen Kommunisten Artur London Ende 1942 bald »Mädchen für alles« wurde. Marek kümmerte sich um Inhalt und Herstellung der Tarnschrift »Soldat im Westen«, organisierte die »Mädelarbeit«, bei der junge Österreicherinnen, die meisten jüdischer Herkunft, Wehrmachtssoldaten ansprachen, um sie politisch zu beeinflussen, sorgte dafür, dass Widerstandskämpfer unter falscher Identität in deutsche Dienststellen eingebaut wurden, und bildete Instrukteure für die illegale Arbeit in anderen Regionen Frankreichs aus.

Über 150 Landsleute, so hat er einmal nachgezählt, sind bei diesen Einsätzen aufgeflogen und ums Leben gekommen. Nach ihrer Verhaftung im Sommer 1944 sollten auch er und seine damalige Lebensgefährtin Tilly Spiegel im Militärgefängnis von Fresnes hingerichtet werden, blieben aber in den Wirren des deutschen Truppenabzugs verschont. Seine vermeintlich letzten Worte, auf französisch in die Zellenwand gekratzt, waren noch jahrelang zu sehen.

Ab 1946 war Marek Chefredakteur des theoretischen Organs der KPÖ, »Weg und Ziel«, ab 1948 Mitglied des Politbüros. Bereits vor seinem Parteiausschluss 1970 übernahm er die Redaktion der kulturpolitischen Zeitschrift »Wiener Tagebuch«, die sich - noch unter dem Namen »Tagebuch« - 1967 von der Partei gelöst hatte und im Jahr darauf in der DDR mit »Verbreitungsverbot« belegt worden war. Während er bei seinen italienischen Genossen in hohem Ansehen stand, wurde Marek von der SED, der DKP und der österreichischen KP totgeschwiegen oder als Abtrünniger verteufelt. Die »Chronik der Linken«, die er bis zu seinem Tod Ende Juni 1979 verfasste, zündete im »Wiener Tagebuch« allmonatlich Glanzlichter.

Glück ist der zentrale Begriff, um den man nicht herumkommt, wenn man sich mit dem neben Ernst Fischer bedeutendsten österreichischen Kommunisten beschäftigt. Damit ist weder der Zufall gemeint, gerade noch davongekommen zu sein, noch die Erwartung, nach der Befreiung ein langes, erfülltes Leben zu führen, sondern der Zustand permanenter Gefährdung im antifaschistischen Widerstand. Marek erinnert sich, dass ihm damals jeder Tag wie ein gewonnener Tag erschienen war, so dass er sich sagen konnte, »auch wenn es heute aus ist, ist mein Pensum bereits zufriedenstellend, meine Arbeit bereits sinnvoll gewesen. Heute scheint es mir gewiß, daß mein ganzer Habitus, mein ganzer Lebensstil weitgehend durch die Tatsache geprägt worden sind, daß die Jahre der Illegalität die glücklichste Zeit meines Lebens waren. Ich dachte oft an die prominenten deutschen Kommunisten - Norden, Bruno Köhler, Abusch -, die ich 1940 in Südfrankreich getroffen hatte, auf der Flucht nach Lateinamerika, um sich ›aufzuheben‹. Wofür? Wozu leben die eigentlich, fragte ich mich. Und was ist das für eine internationale Solidarität, die die Franzosen allein bluten läßt? Auch ich hatte ein kubanisches Visum, von meiner Schwester Netti unter schweren Opfern gekauft - aber ich dachte nicht daran, davon Gebrauch zu machen.«

Es soll nicht der Eindruck entstehen, dass Mareks Erinnerungen nur von zeitgeschichtlicher Bedeutung wären. Dafür sind sie zu anschaulich, prägnant, selbstironisch und zugleich von einer beschämenden Ernsthaftigkeit. Literatur eben, könnte man sagen, wäre nicht das meiste, das sich als solche ausgibt, belanglos. Der Schriftsteller und Regisseur Berthold Viertel hat Autobiografien einmal als »Bilanzfälschungen« bezeichnet; die von Franz Marek ist das genaue Gegenteil.

»Ich habe rasche Aufnahmefähigkeit, beeindrucke oft durch eine gewisse Gabe der Assoziation, gehörte in der Führung meiner Partei zu den Einäugigen unter den Blinden, bin aber alles andere als ein wirklich gründlicher, tiefer Denker. Das war der entscheidende Grund - von Zeitgründen abgesehen -, warum ich lieber viele Artikel schrieb als ein größeres Buch. Streng genommen war es immer so gewesen und auf vielen Gebieten, daß ich rasch erfaßte, in den Anfängen brillierte, ja bluffte, gute Formulierungen fand, aber nie wirklich schöpferische und originelle Gedanken entwickelte. Ja, ich glaube mich zu erinnern, ich hatte schon in der Schulzeit Angst, daß Kollegen, Freunde und Bekannte plötzlich entdecken könnten, wie maßlos sie mich überschätzen - obwohl ja diese Maßlosigkeiten in den letzten Jahren immer maßvoller geworden sind, die Angst eher größer.«

Mareks Elternhaus war jüdisch-national gesinnt, in der engen Wohnung - sieben Personen auf Zimmer, Küche, Kabinett - im ärmsten Teil des Judenviertels Leopoldstadt wurde die »Wiener Morgenzeitung« gelesen, auch vom kleinen Ephraim, der damals schon Franz gerufen wurde. »Mir blieben zwei Lektüren in Erinnerung: ein Fortsetzungsroman ›Goal‹, die Karriere eines jüdischen Fußballstürmers, längere Zeit mein Idol - und der Nachruf auf einen Zionisten, den der Herzschlag getroffen hatte: ›Er starb an der Krankheit unserer Großen, an gebrochenem Herzen.‹ Ich war überzeugt, daß auch ich deshalb so enden werde.«

So war es dann auch: Marek erlag, 66-jährig, einem Herzinfarkt. Für den Befund, dass er entgegen seiner späten Einsicht einer »unserer Großen« war, braucht es keinen Analogieschluss. Nur gibt es keinen mehr, der sich in das besitzanzeigende Fürwort einschließen würde.

Franz Marek: Beruf und Berufung: Kommunist. Lebenserinnerungen und Schlüsseltexte. Hg. v. Maximilian Graf und Sarah Knoll. Mandelbaum Verlag, 347 S., geb., 25 €.

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