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Die Angst vor den Häschern blieb bis zum letzten Tag
Das Tagebuch des Léon Werth aus der Zeit, als Frankreich von der deutschen Wehrmacht besetzt war
Wer nicht begriffen hat, was sich in Europa in den letzten 75 Jahren getan hat, sollte zu diesem »bewundernswerten historischen Dokument« (Lucien Febvre) greifen: ein Tagebuch, das der linke Intellektuelle Léon Werth (1878 - 1955) während der Jahre der deutschen Besatzung Frankreichs bzw. des Vichy-Regimes geschrieben hat. Jeden Tag, vom Einmarsch der Wehrmacht 1940 bis zur Befreiung von Paris 1944, notierte der sich selbst als »assimilierten Juden« bezeichnende Autor, was er sah, hörte, erfuhr, was er dachte und empfand. Es gibt ein entfernt vergleichbares Buch - von einem Deutschen: Victor Klemperers Tagebücher.
• Léon Werth: Als die Zeit stillstand. Tagebuch 1940 – 1944.
A. d. Franz. v. Barbara Heber-Schärer und Tobias Scheffel. S. Fischer, 944 S., geb., 36 €.
Auch Werth legt Zeugnis ab. Er überlebt zunächst in der »freien Zone«, dem von der Wehrmacht zunächst nicht besetzten Teil Frankreichs, versteckt im Jura bei Bourg-en- Bresse. Der greise Marschall Pétain ist Präsident des Vasallenstaats Hitlers. Nicht wenige Franzosen arrangieren sich mit dessen rechtskonservativem, antisemitischem Regime. Andere gehen in die Résistance!
Am Anfang dieser Zeit, die dann stillstand, staunt Werth über die rasche französische Kapitulation. Unter dem Datum 6. September 1941 liest man: »Was für ein Leben, sagt mir der Stellmacher. Alles nur Lüge und Schmuggel. Wir leben mit den Zeitungslügen. Und um etwas zu essen zu haben, sind wir auf den Schmuggel angewiesen.« Und wenig später, am 23. September: »Der Marschall fordert die Franzosen auf, die Urheber von Attentaten auf den Besatzer anzuzeigen.« Dazwischen finden sich Beobachtungen über die Menschen in Werths Umgebung, Bauern, Cafébesucher, Eisenbahner, heimlich über die Demarkationslinie zwischen Nord und Süd geschmuggelte Illegale. »Ich habe den Zugführer getroffen, der meine Frau und meinen Sohn durch die Linie gebracht hat. Als ich die Dame und den jungen Mann aus dem Gepäckwagen holte, war ich froher als sie«, heißt es am 16. Januar 1942.
Immer wieder gibt es poetische Impressionen, die den literarischen Rang des Tagebuchs beglaubigen: »Himmel aus altem Zinn, fliederfarbener und blauer Schnee, alte krumme Bäume, ganz alte Meister, alte, vollkommen skelettierte Bäume. Kein Hauch. Ich habe das Bedürfnis, mich in den Schnee zu legen, einzuschlafen wie ein von der Schneefee gewiegtes Kind, einzuschlafen in weißer Sonne.« Aber es wird auch wieder ernster. Der Hass auf die Kollaborateure wie auf die Deutschen steigt. Über einen nach Nazi-Deutschland zum Dichtertreffen in Weimar eingeladenen katholischen Schriftsteller schreibt Werth am 21. April 1943: »Ein gewisser Marcel Jouhandeau rollt sich zu Füßen der Deutschen wie eine liebestolle Katze.«
Es häufen sich ermutigende Kriegsberichte, nach denen die Deutschen an allen Fronten auf dem Rückzug sind. Die Angst vor dem Entdecktwerden bleibt bis zuletzt. »Ich höre Schritte auf dem Weg, den ich wegen der Bäume nicht sehen kann. Ich spitze die Ohren. Aber ich erkenne das Geräusch von Holzschuhen, nicht von Stiefeln. Ich bin erleichtert«, notiert Werth am 7. September 1943. In einem Satz fasst er am 31. März 1944 sein Urteil über die Okkupanten zusammen: »Etwas bleibt, was dem Deutschen zu eigen ist: Grobheit und der Wille zu demütigen.«
Acht Jahre später gründen Frankreich und die Bundesrepublik die Montanunion. 20 Jahre später reichen sich de Gaulle und Adenauer in Reims die Hand. Nach der Lektüre des Tagebuchs von Léon Werth erscheint dies wie ein Wunder.
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