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Nach der Flucht - die Sehnsucht

Simon-Pierre Hamelin hatte sein Elternhaus gegenüber der Wohnung von Marina Zwetajewa in Paris

  • Monika Melchert
  • Lesedauer: 3 Min.

Georgij, der achtjährige Sohn der Dichterin Marina Zwetajewa, ist erst im Exil geboren. Er kennt Russland nur aus den Erzählungen der Eltern, und doch fühlt das Kind, dass alles, was ihr Leben ausmacht, dort liegt und dass seine Mutter nur in Russland wieder Kraft zum Schreiben finden wird. Nach Revolution und blutigem Bürgerkrieg sind sie ins Ausland geflohen, weil Marinas Mann, Sergej Efron in den Reihen der Weißen gekämpft hatte. Sie haben schon alles versucht, in Berlin und dann einige Jahre in der Nähe von Prag, doch heimisch sind sie nirgends geworden.

• Simon-Pierre Hamelin: 101, rue Condorcet, Clamart. Roman.
A. d. Franz. v. Regina Keil- Sagawe, Nachw. v. Marie- Luise Bott. Osburg Verlag, 117 S., geb., 14 €.

Jetzt, 1932, leben sie in dem Pariser Vorort Meudon unter ärmlichsten Verhältnissen. Die Adresse lautet: 101, rue Condorcet, Clamart. Und genau im Haus gegenüber befindet sich der französische Autor Simon-Pierre Hamelin (Jahrgang 1973), als er eines Nachts die Biografie der großen russischen Dichterin Marina Zwetajewa liest: Es ist sein Elternhaus. Aus dieser virtuellen Begegnung zweier Lebensläufe entsteht ein kleiner, intimer Roman über das Problem des Exils und die Entwurzelung ganzer Existenzen.

Hamelin lässt in einzelnen Kapiteln alle Mitglieder der Familie sprechen und ihre Verzweiflung, ihr Fremdheitsgefühl und ihre Sehnsucht nach der wirklichen Heimat zum Ausdruck bringen. Haben wir nicht alles verloren, sagt Marina zu ihrem Mann, »unsere Jugend, die Atmosphäre, das Licht unserer Jugend«. Ihr Konflikt: Hier, in der Fremde, fühlt sie sich nutzlos, kaum einer nimmt von ihr Notiz, ihre Literatur findet kein Publikum. Doch auch in Sowjetrussland, so sieht sie klar voraus, wird es keine Zukunft für sie geben. Der »Neue Mensch«, der dort propagiert wird, scheint für Ihresgleichen unerreichbar, ihr graust davor.

Und wäre nicht Sergej Efron, der seinen Pass schon beantragt hat und alles daran setzt, so bald wie möglich in die Heimat zurückzukehren, käme Marina Zwetajewa niemals auf dieselbe Idee. Doch er hat auch Ariadna, ihre Tochter, mit seiner Hoffnung angesteckt. Sie, inzwischen eine junge Frau von zwanzig Jahren, malt sich das neue Russland in rosigen Farben aus und wird mit ihrem Vater gehen. Hin- und hergerissen zwischen Angst, Verzweiflung und Sehnsucht nach dem Duft des Vogelbeerbaums und den Wäldern von Tarussa, klammert sich die Dichterin an ihre Schreibhefte - Tagebücher, die ihr wie ein Rettungsseil erscheinen (und die übrigens jetzt in einer Suhrkamp-Ausgabe erschienen sind). Sie notiert darin alles, was in ihrem gemarterten Kopf entsteht: Beobachtungen, Träume, Prosaentwürfe und vor allem ihre wunderbaren Verse, in einer Sprache, die nur ihr zur Verfügung steht. Die winzige, verschmutzte Küche im 5. Stock bietet ihr nur wenig Raum: einen Tisch, eingeklemmt zwischen Kohleneimer und Herd. An diesem aber entwirft sie ihre poetische Welt.

Drohend steht hinter ihr der Gerichtsvollzieher, denn sie können ihre Schulden nicht bezahlen. Da hilft nur der Wodka, den abwechselnd Efron und sie dem Mann einflößen.

Marina Zwetajewa, hellsichtig, wie nur Dichter es sein können, ahnt die Katastrophen voraus: Wie sie zurückkehren, man sie verhaftet bzw. evakuiert, und selbst den Strick, mit dem sie ihr verlorenes Leben beenden wird. Simon-Pierre Hamelin versetzt sich in seine Figuren hinein, Hin- und Hergeworfene, Menschen, die die Heimat verlassen haben und nirgends eine neue finden: Aus der Welt gestoßen fühlt sich die Dichterin, in der Ungewissheit jeglichen Asyls nur notdürftig behaust. Was sie der Nachwelt hinterlassen kann, ist allein ihre großartige Poesie.

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