Mit den Ohren sehen

Im Kino: Der Dokumentarfilm »Zeit für Stille« von Patrick Shen

  • Caroline M. Buck
  • Lesedauer: 4 Min.

Wie laut ist eine Landstraße, wenn gerade niemand auf ihr fährt? Ein Waldstück im Winter, wenn gerade nichts weiter passiert? Der Ton von Luft und Schnee inmitten eines Nationalparks in Alaska? Oder die meditative Stille eines Raumes, in dem sich Menschen befinden, die alle gleichzeitig atmen, denken, fühlen - aber sich nicht darüber austauschen? Wie wichtig ist gelegentliches, wie wichtig gar anhaltendes Schweigen, um die menschliche Fähigkeit zum Gespräch schätzen zu lernen - und wie dringend bräuchten wir alle mal Abstand von Sprache, Medien, Kommunikation - oder jedenfalls solcher, die mit dem Öffnen des Mundes einhergeht? Wie oft muss der Mensch mit sich allein sein, um eine ausgewogene Perspektive auf sein und der anderen Leben zu gewinnen?

Patrick Shens Dokumentarfilm »Zeit für Stille« geht der Frage nach, ob Schweigen glücklich macht - und gesünder. Ob der bewusste Umgang mit Kommunikation und Stille, wie er weltweit für Klöster typisch ist, nicht nur spirituell, sondern ganz banal auf physischer Ebene zum menschlichen Wohlbefinden beitragen. Ob der Mensch von Zeit zu Zeit das Plappern auch mal unterlassen muss, um sich selbst nah zu sein. Eine anfängliche Schweigeminute in einem Bürokomplex wirkt zunächst wie ein Film, bei dem jemand den Ton abgedreht hat. Kaum aber hat man sich an den Anblick vieler stiller Menschen auf Treppen und Fluren gewöhnt, ist die Minute vorbei und der Lärm nun wieder wuselnder Arbeitnehmer innerhalb von Sekunden ohrenbetäubend.

Danach tut es gut, mal in den Wald zu lauschen. Den Vögeln zuzuhören, den Blättern, der Atmosphäre. Ob ein Film über das Schweigen, die Stille, die Abwesenheit von Lärm nun unbedingt ganz so viele Interviews mit Menschen enthalten musste, die sich höchst ernsthaft über die Gründe für das Schweigen, die Definition des Begriffs Stille und ihr ganz persönliches Verhältnis zur An- oder Abwesenheit von Geräuschen auslassen, ist dann wieder fraglich. Es gibt mehr als einen Moment in »Zeit für Stille«, in dem man sich aktiv wünschte, es wäre nun endlich mal - Ruhe. Dann könnte man die Stille vielleicht wirklich hören.

Die visuelle und akustische Reizüberflutung im modernen Leben ist permanent, und sie ist schädlich. Keine neue Erkenntnis, aber allzu oft ignoriert. Stille ist überlebenswichtig, gehört, als Respekt vor den Worten und Gedanken des anderen, idealiter zur Basis jeder politischen Kultur. (Ein paar kurze Ausschnitte aus entgleisenden politischen Talk Shows im US-Fernsehen macht das mal wieder mehr als deutlich.) John Cage, der immer wieder rhythmisierend in Interviewszenen auftaucht, baute den bewussten Verzicht auf Töne in seine experimentelle Musik schließlich ein: wer mal 4 Minuten und 33 Sekunden lang Musikern dabei zusah, wie sie die Hände in den Schoß legen, hat zwar vielleicht wenig gehört, aber umso mehr verstanden.

Japanische Forscher wiesen nach, dass eine Stunde im Wald den Doktor ersetzt, weil Stresslevel fallen, wenn wir mal innehalten und dem Laut von Blättern lauschen, die in der Brise schwingen. (Unmittelbar gegen die sanften Waldgeräusche geschnitten, klingt selbst die Glocke im Kloster wie ein akustisches Gewaltverbrechen.) Ein wandernder US-Amerikaner mit Fundi-Bärtchen hat dem Sprechen abgeschworen, schreibt aber fleißig abgeklärte Kommentare in seine reichlich kommunikative Kladde. Eine japanische Teezeremonie fokussiert die menschliche Aufmerksamkeit auf den Tee, weil sie so ruhig und so gemessen ist.

»Auch die Stille ist ein Ton«, sagt einer, der mit dem Verkaufen von Geräuschen für Konzerne und globale Märkte seinen Lebensunterhalt verdient. Und er weiß sie gerade deshalb sehr zu schätzen: als Ausgangspunkt für aktive Raumgestaltung, als Verkaufsmodell. Maschinen werden heutzutage wieder leiser - zumindest die, für die jemand entsprechend viel Geld auszugeben bereit ist. Eine Lösung des Problems ist das noch nicht. Der Film aber beginnt und endet auf einem (dem Anschein nach ansonsten eher agrarindustriellen) Feld, der einzelne Baum in seiner Mitte eignet sich geradezu lächerlich perfekt als Meditationshilfe. Der Abspann ist dann lang, aber sound-frei. Eine angenehme Erfahrung.

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