Ötzis Geschichte

Neu im Kino: »Der Mann aus dem Eis« von Felix Randau

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 6 Min.

Die bewegten Bilder - sei es in Form des Kinofilms oder der Fernsehunterhaltung - wollten schon immer verführen; darin liegt ihr Missbrauchspotenzial. Schon mit Beginn des Filmzeitalters beanspruchte das Medium Film eine Authentizität für sich, die radikal mit der der Literatur oder der Malerei brach. Wollten diese Realität nur nacherzählen oder nachbilden, will der Film Realität sein. In seinem Essay »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« (1935) verglich der Philosoph Walter Benjamin die Malerei mit dem Film und kam zu folgendem Schluss: »Der Maler beobachtet in seiner Arbeit eine natürliche Distanz zum Gegebenen, der Kameramann dagegen dringt tief ins Gewebe der Gegebenheit ein. Die Bilder, die beide davontragen, sind ungeheuer verschieden. Das des Malers ist ein totales, das des Kameramanns ein vielfältig zerstückeltes, dessen Teile sich nach einem neuen Gesetze zusammenfinden. So ist die filmische Darstellung der Realität für den heutigen Menschen darum die unvergleichlich bedeutungsvollere.«

Je weiter die Filmtechnik in den vergangenen Jahrzehnten voranschritt, desto stärker griff der Film in unsere Vorstellung von Wirklichkeit ein. Mit dem Verfahren des Reenactment, also der filmischen Inszenierung geschichtlicher Ereignisse in möglichst authentischer Weise mit dem Ziel, Geschichte »wiedererlebbar« zu machen, hat dieser Eingriff seinen (vorläufigen) Endpunkt erreicht.

Mit dieser Verführung wird das vormals zerstückelte Bild der Wirklichkeit in ein neues zusammengefügt, das - und das ist das Positive daran - ein tief greifendes Verständnis von Geschichte vermitteln kann. Nehmen wir folgendes Beispiel: Im Schnalstal im heutigen Südtirol lebte vor 5200 Jahren ein Mann, über den viele Fakten bekannt sind, ohne dass wir deshalb über die Person etwas wüssten. Zum Zeitpunkt seines Todes war dieser Mann ungefähr Mitte vierzig, etwa 1,60 Meter groß, und er hatte noch einige Stunden vor seinem Tod er ein reichliches Fleischmahl verzehrt. Er litt an allerlei Krankheiten wie Atherosklerose, Arthrose an verschiedenen Gelenken, hatte eine Staublunge, mehrere verheilte Knochenbrüche; Haut und Zustand der inneren Organe lassen auf Schwermetallbelastung und Parasitenbefall schließen. Seine Mutter gehörte einer kleinen, auf die lokale Umgebung beschränkten Gruppe an, die vermutlich ausstarb. Die genetische Linie des Vaters findet sich dagegen auch noch in heutigen Populationen in halb Europa. Das Erbgut der in der Leiche gefundenen Magenbakterien lässt darauf schließen, dass die Vorfahren des Mannes aus Asien stammten. Auch die Ursache seines Todes ist bekannt: Im Oberkörper der Leiche befand sich, als sie aufgefunden wurde, eine Pfeilspitze. Der Mann wurde also ermordet.

Nach einer Zeit von mehr als 5000 Jahren sind das beeindruckend viele Fakten. Doch Aufzeichnungen über das Leben des Mannes, dessen Gebeine 1991 in den Ötztaler Alpen im schmelzenden Gletschereis freigelegt wurden, gibt es nicht. Die Lücke, die die Forscher lassen müssen, kann der Film füllen, indem er eine Geschichte über das Leben und Sterben von Ötzi, wie die Leiche schon bald nach ihrem Auffinden durch ein deutsches Bergwanderer-Ehepaar genannt wurde, erzählt

Felix Randau hat dieses Experiment gewagt. Sein Film »Der Mann aus dem Eis« hatte seine Premiere bereits im Sommer beim Filmfest in Locarno. Und in dieser filmischen Nacherzählung wird eines nur wenig getan: gesprochen. »Der Mann aus dem Eis« ist ein Film, der die Bilder sprechen lässt und mit nur wenigen Worten auskommt. »Auf Untertitel wird verzichtet«, heißt es im Vorspann, was zunächst irritiert. Doch Untertitel braucht es nicht, denn ganze Sätze gibt es kaum, und wo inhaltliches Verstehen des Gesprochenen nötig ist, treten Gesten und Mimik an die Stelle der Sprache. Die Sprache, mit der Ötzis Sippe kommuniziert, ist eine Form des Rätischen, wie es noch bis ins dritte nachchristliche Jahrhundert in Teilen des Alpenraums gesprochen wurde. Jürgen Vogel spielt diesen »Eis-Mann« mit einer Intensität, die den Zuschauer jeden Schmerz, sei er körperlicher oder seelischer Art, nachempfinden lässt. Regisseur Felix Randau zwang sein Ensemble (neben Vogel Susanne Wuest, André Hernicke, Franco Nero, Sabin Tambrea und Axel Stein) geradezu, gegen diese Gewalt der Natur körperlich anzuspielen.

Die Geschichte dieses »Mannes aus dem Eis« ist eine fiktive; es könnte sich so zugetragen haben oder auch nicht. Jürgen Vogel alias Kelab ist das Oberhaupt einer kleinen Sippe in den Hochalpen. Das Leben ist karg, der Tod allgegenwärtig - sei es durch wilde Tiere, Krankheiten, Naturgewalten oder durch andere Menschen. Entsprechend gewalttätig geht es in diesem Film zu. Randau inszeniert diese Gewalt extrem naturalistisch als Reaktion auf einen ständigen Überlebenskampf der Spezies Mensch. Für ethische Skrupel, so viel ist klar, war in der Jungsteinzeit kein Platz.

Dass das Setting des Films authentisch ist, ist auch den beratenden Wissenschaftlern zu verdanken. Der Schweizer Linguist Casper Pult beriet die Schauspieler, wie das Rätische damals geklungen haben könnte; Mitarbeiter des Ötzi-Dorfes in Umhausen (Ötztal) haben darauf geachtet, dass jedes Detail stimmte, bis hin zur schwarzen Wollfarbe der Ziege und den Ausrüstungsgegenständen, mit denen Kelab auf die Jagd geht. Beeindruckend auch die Naturaufnahmen: Gefühlte zehn Minuten dauert allein die schwindelerregende Kamerafahrt einen felsigen Steilhang hinauf zum Similaun-Gletscher, wo Ötzi/Kelab das bekannte Ende findet.

Die Handlung ist schnell erzählt: Drei fremde Männer dringen in die kleine Siedlung ein, in der die an Köpfen überschaubare Sippe Kelabs lebt. Dieser ist auf der Jagd. Als er zurückkehrt, findet er seine Frau Kisis (Susanne Wüst) und alle Bewohner des Dorfes niedergemetzelt vor. Objekt der Begierde der drei Fremden war ein Kultgegenstand, den sie auch finden und mit sich nehmen. Nur ein Neugeborenes und eine Ziege haben überlebt. Kelab nimmt sich des Babys an und geht erneut auf die Jagd - diesmal auf die nach Menschen. Getrieben von der Rache, hetzt er den drei Männern in das Hochgebirge hinterher. Auf dem Weg stößt er auf zwei Diebe, von denen er einen tötet. Das Kind überlässt er einem alten Jäger (Franco Nero) und einer jungen Frau.

Kelab kann seinen Rachedurst stillen, doch Befriedigung darüber will sich weder bei ihm noch beim Zuschauer einstellen. Schließlich waren die drei Männer, wie sich herausstellt, das, was Männer außer potenziellen Mördern, Räubern, brandschatzenden Vergewaltigern auch noch sind: treu sorgende Gefährten für ihre Frauen und liebevolle Väter ihrer Kinder.

Im Ötzi-Dorf in Umhausen hängt eine Tafel. Auf der ist zu lesen, dass in den vergangenen Jahren durch Gen-Analysen mehrere Dutzend im heutigen Südtirol lebende Nachfahren von Ötzi identifiziert werden konnten. Und wie wir dank der durch den Fund der Gletscherleiche ausgelösten Forschung mittlerweile auch wissen, wurde die Gebirgsregion wie das ganze Gebiet zwischen Etsch und Belt, von der im Text zum Deutschlandlied von Hoffmann von Fallersleben die Rede ist, immer wieder von Einwanderern aus Osteuropa und Asien besiedelt. Und so ist diese wohl berühmteste Mumie der Welt mehr als nur ein Artefakt aus der Jungsteinzeit; sie ist Erinnerung an das, was Europa, was Deutschland schon immer war und ist: ein Schmelztiegel der Gene und der Kulturen.

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