Träum und verlier!

»Alien« und »Blade Runner«: Zum 80. Geburtstag von Ridley Scott

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Es ist vielleicht unsere entscheidende Hoffnung: verschont zu werden. Diese Hoffnung wach und stark zu halten, bedarf es mitunter eines Kitzels, bedarf es der Dramen gegenteiliger Erfahrung: Ja, wir lassen uns - zum Schein - gern hineinziehen in die Mythen des Untergangs, ins traurige Schicksal derer, die auserwählt wurden für Unglück und Leid. Liebe zur Kunst, speziell zur Tragödie, hat somit etwas verborgen Grausames, das uns auch beim Betrachten der täglichen Nachrichtenbilder bewusst werden könnte. Noch im tiefsten Mitgefühl nämlich bleiben wir, wie es Regisseur Ridley Scott ausdrückte, Komplizen eines nicht sehr feinen, sondern äußerst egoistischen Gedankens: »Wir sind davongekommen, wir leben - andere nicht. Nicht mehr.«

Auch einer seiner berührendsten Filme kreist um just diese Existenzlage: der Mensch in der harten Prüfung, Schattenlinien überschreiten zu müssen - »White Squall«. Jeff Bridges spielt den Kapitän eines zum Sinken verurteilten Schulseglers. Beklemmend: Wie finden, unter katastrophischem Druck, das heißblütige Junge und das zerkühlte Alte, das Ungestüm und die verantwortungsbewusste Übersicht zueinander? Ein schwermütiges Porträt der Handlungsfreiheit, die plötzlich auch nur die Kehrseite einer unheimlichen Vorsehung ist. Wie Freiheit stets: Sie operiert im Ungefestigten; kein Gott, kein wohlmeinender Weltgeist, kein historisches Gesetz erhebt sie in die dauerhafte verlässliche Berechenbarkeit.

Scott, der sich partout als Handwerker versteht, weniger als Autorenfilmer, und den die Ruhmeshallen seit jeher kaltlassen (Wirkung ist lockender als Weihe) - er hat stets ein sicheres, unaufgeregtes Gefühl für jene Zeit gehabt, die vergehen muss, ehe ein gescholtener Film Klassiker wird. »Blade Runner« etwa, mit seinen düsteren Bildern von Los Angeles. Diesem frostig-schmutzigen Regen. Dieser fahlen, erinnerungslosen Stadtwüste, diesen Maschinenmenschen und Menschenmaschinen - eine einzige Preisgabe des Organischen.

Und zuvor war in der Filmgeschichte eine kühle, sehnige, kantige Frau aufgetaucht. Sie jagte jenes glitschige, unheimliche Wesen aus einer anderen Welt, welches das Raumschiff »Nostromo« (Hommage an Joseph Conrad) in eine Hölle verwandelt hatte. Ridley Scott drehte den ersten der insgesamt vier »Alien«-Filme. Drei neuzeitliche Klassiker des Kinohorrors waren damit geboren: jener Lieutenant Ellen Ripley der Sigourney Weaver; das Alien des Schweizer Künstlers H. R. Giger, mit Säure statt Blut im glibberigen Tintenfischcorpus; und dazu ein Thrillergestus der virtuos nervösen, hypnotischen Bildfolgen. Die Augen des Betrachters wurden zu Augen eines verunsicherten Patienten; aus Missions- war Infektionskino geworden - denn was man von den Bilderfluten bekam, war nicht Information, sondern Ansteckung. Die Botschaft, krasser denn je: Alle Gewalt geht vom Schnitt aus.

Scott ist Stimmungszeichner, gar nicht so sehr Aktionist. Letzteres ist er freilich auch, in »Thelma & Louise« mit Geena Davis und Susan Sarandon, im sensationell dreckigen Römerdrama »Gladiator« mit Russell Crowe, im räudig-romantischen »1492: Conquest of Paradise« mit Gérard Depardieu als Columbus, in »American Gangster« mit Denzel Washington als Drogenboss in Harlem, in »G. I. Jane« mit Demi Moore. Es scheint, als müsse Geschichte zur Explosion gezwungen werden, da die Helden schon zu Beginn an eine Grundmüdigkeit gefesselt sind, die sie nie mehr loslässt und die jeden moralischen Auftrag dem Vorwurf aussetzt, er fordere das Erwachsensein zur immer falschen Zeit. So durchleben die Helden ihre Filme: als seien sie ihnen ein wenig aufgezwungen worden.

Auch dies ist ein Film von Ridley Scott: Ein Junge fährt Brot aus, tiefste englische Provinz. Müht sich mit seinem Rad die Hanglage hoch. Der kleine Sisyphos, begleitet von Klängen Dvořáks. Dann aber, die letzte Adresse ist erledigt, rast er auf seinem Gefährt beseelt das Kopfsteinpflaster hinab - als sei er jetzt jener hüpfende Stein, der jedem Sisyphos davoneilt in die rauschende Geschwindigkeit eines Glücks, darin Plage der Aufstiege und pfeifende Lust der Abstiege ein unzertrennliches Paar bilden. Ja, ein Film, ein sehr kurzer allerdings, ein früherer Werbespot nämlich, für die BBC - gedreht, weil der Sender dem damals fast schon 40-jährigen Scott keinen abendfüllenden Stoff geben wollte. Eine Weile war der Regisseur der Fließband-Meister des Clips.

Für Scott regeneriert sich das Böse aus dessen Fähigkeit, sich mit allem zu vereinen, was es vernichten will. So wie das Alien. Und so, wie in einigen anderen Filmen Underdogs in festem Glauben an den US-amerikanischen Traum versuchen, den verderbten Staat zu zerstören - und damit doch nur dessen kategorischen Imperativ bestätigen: Träum und verlier! Am Traum zu scheitern - nur das hält den Traum am Leben. Und dieses herzlos sentimentale Amerika.

Und die Verfolgungsjagden? Die Duelle, jene Kämpfe, die das Sterben in Umlauf bringen, um Leben nachzuweisen? Letzte Verschwendungen von Stimme, Muskel, Atem; verzweifelte Hingabe an ein Überleben, das für die meisten nur von kurzer Dauer, also nichts weiter als eine ekstatische Form des Verschwindens ist. In Filmen von Scott »ist alles möglich, nur damit man vergisst, dass Tod in noch mehr Tod verwandelt wird« (Elfriede Jelinek). Jüngst erst: »Alien: Covenant« mit Michael Fassbender. Science Fiction als dunkelmalerische Orgie, in der sich Hollywoods Waghalsigkeit offenbart - das leidenschaftliche Bekenntnis zum Nullpunkt jedweder Kultur: Alles ist möglich an Liebe, an Solidarität, an kollektiver Kraft, außer freilich, dass es je Wirklichkeit wird. Wir sind weit draußen.

Soeben hat Scott aus seinem neuesten Film »Alles Geld dieser Welt«, kurz vor dessen Kinostart, sämtliche Szenen mit Kevin Spacey herausgeschnitten und neue Dreharbeiten angesetzt. Denn den Schauspieler hatte eine Verdachtswoge niedergerissen: sexuelle Übergriffe heftigster Art. Mit seiner Reaktion, die viel Geld kosten dürfte, um an der Kinokasse kein Geld einzubüßen, gab Scott nun ein hysterisches Beispiel moralischer Säuberungsneurose. Als könne, auf welchem Gebiet auch immer, die Moral per Exekutive den Trieb verjagen. Verjagen ist verdrängen.

Es geht beileibe nicht um die Bagatellisierung krimineller Auswürfe, aber sehr wohl um den Umstand, dass die Beziehungen zwischen »privater und poetischer Persönlichkeit« eines Menschen, so Goethe, weit komplizierter sind, als es ein Cut bereinigen könnte. Wie sagte Karl Kraus: »Michelangelo wäre ein großer Päderast geworden, auch wenn er ohne Hände auf die Welt gekommen wäre.« Aus der Sixtinischen Kapelle ist er jedenfalls nicht geflogen. Und Caravaggio war ein Mörder. Die Aktion Scotts passt freilich zur Lage: Die mediale Aufmerksamkeit für Missbrauchsfälle wurde längst zum voyeuristischen Infotainment. Und wie immer steckt in jeder nötigen Wachsamkeit auch ein rumoriger Wachtmeister.

Dessen ungeachtet: Scott ist der standfesteste Brite im US-Kino, der Mann aus South Shields, der in seiner Jugend von Assistenzen bei den Starfotografen Richard Avedon und Irving Penn träumte und Verehrer von Orson Welles und Kinogenie Jacques Tati wurde. Den Film »Prometheus« drehte er, als wolle er Gott nachträglich ins Kino bitten und ihm zeigen, wie man Schöpfungszweifel genauso säen wie Schöpfungslust schüren kann. Heute wird Ridley Scott 80 Jahre alt.

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