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Schmiersuffbetäubt

»Der goldene Handschuh« von Heinz Strunk am Deutschen Schauspielhaus Hamburg

  • Christian Baron
  • Lesedauer: 6 Min.

Mittwoch ist immer ein schwieriger Tag. Nie weiß man, was in den Spelunken los ist. Lohnt es sich überhaupt, die Bude zu verlassen? Das kommt jedes Mal wieder auf einen neuen Versuch an. Niemand weiß, warum es in Hamburg auf St. Pauli an diesem Tag ebenso bumsvoll wie gähnend leer sein kann, selbst Herbert nicht, der sonst alles weiß. Der Wirt der Kneipe »Der goldene Handschuh« kann sich aber zumindest auf eines verlassen: Seine Stammgäste Anus, Soldaten-Norbert und Fiete sind immer da. Ihnen bleibt nichts anderes übrig, als im »Handschuh« ihrem Elend trinkend zu entrinnen.

Vor einem Jahr bescherte ausgerechnet Heinz Strunk mit »Der goldene Handschuh« dem deutschsprachigen Gesellschaftsroman einen Schub in Sachen sozialem Realismus. Da beschäftigte sich ein in den neunziger Jahren über Juxanrufe bekannt gewordener Autor humoristischer Werke wie »Fleisch ist mein Gemüse« plötzlich ernsthaft mit einem Thema, das der richtunggebende Part der politischen Linken für nachrangig und ein Teil des Kunstbetriebs für langweilig hält: die sozioökonomischen Ursachen materieller Armut. Feuilleton und Leserschaft waren zu Recht hingerissen von diesem wunderbar geschriebenen und sinnlich komponierten Buch, das auf einer wahren Begebenheit beruht.

Dass eine Bühnenadaption jetzt am Deutschen Schauspielhaus Hamburg zu sehen ist, verwundert darum nicht. Unerwartet ist vielmehr der Zugriff auf den Stoff des Romans. Wo die Vorlage ohne jeden Klamauk und streckenweise sogar in naturalistischer Nüchternheit die Geschichte des Frauenmörders Fritz »Fiete« Honka erzählt, kommt die Theaterfassung als komödiantische Revue daher. Das Trio von »Studio Braun«, zu dem neben Heinz Strunk auch Rocko Schamoni und Jacques Palminger gehören, inszenierte das in den siebziger Jahren angesiedelte Bravourstück literarischer Milieuschilderung und bedachte sich gleich selbst mit tragenden Rollen: Strunk spielt den Kneipenwirt, Schamoni den Ex-Waffen-SS-Mann Norbert und Palminger den Schnapsschlaks Anus.

Am runden Tresen lernt Honka zu Beginn die erbarmungswürdige Gerda Voss (Bettina Stucky) kennen. »Wie dreckiger Rasierschaum ergießt sich graues, dünnes Haar über die Rückseite ihres eulenartigen Schädels. Die Kopfhaut ist an mehreren Stellen kahl. Sie steht da wie abgeschaltet, den Blick ins Leere gerichtet, vereist und ausdruckslos.« So beschreibt der Erzähler in Strunks Buch diese Gerda, und so hat auch »Studio Braun« sie konzipiert.

Für die ersten Lacher sorgen die an Bud Spencer und Terence Hill erinnernden Sprüche der Kaschemmenbesucher. Dann tritt der in dieser Rolle von der ersten Minute an brillierende Charly Hübner als »Fiete« auf. Er ist zwar viel größer als der historische Honka, sieht ihm aber mit kunstvoll zerfurchtem Säufergesicht erstaunlich ähnlich. Mit einem offenbar bei Harald Juhnke abgeschauten Wippgang und einigen beinahe distinguiert wirkenden Zügen an der Fluppe schleppt er Gerda durch die kalte Winternacht zu sich nach Hause. Die Bühne dreht sich, wie in den folgenden zwei Stunden auch, im Rhythmus des Handlungsverlaufs. Sogar der lethargischen Gerda fällt der Gestank in Honkas Stube auf, den der Hausherr mit einer zischenden Wolke aus der griffbereiten Duftspraydose vertreiben zu können vorgibt. An den Wänden: zerknitterte Poster aus Schmuddelzeitschriften. Ansonsten: versiffter Herd im Raum, undefinierbarer Müll auf dem Boden, erdrückende Tristesse in der Luft.

Zwischen 1970 und 1975 tötete Fritz Honka vier Frauen, deren Leichen er zerstückelte und in seiner kleinen Hamburger Wohnung in der Zeißstraße 74 versteckte. Im Verlauf von Löscharbeiten stieß die Polizei im Sommer 1975 zufällig in der Abseite des Dachgeschosses auf sterbliche Überreste. Der Fall versorgte die Kotschleudern des Boulevardjournalismus lange Zeit mit Material.

All das befindet sich im Hinterkopf des Publikums, wenn »Fiete« auf der Bühne zum Plattenspieler schlurft und sein Lieblingslied einlegt. Er packt Gerda und imitiert in slapstickhafter Unbeholfenheit einen eng umschlungenen Highschool-Abschlussballtanz, wie er ihn in amerikanischen Filmen gesehen haben könnte. Und all das zu den Schlagerklängen von Adamo: »Es geht eine Träne auf Reisen, / Sie geht auf die Reise zu mir. / Der Wind bringt sie mir mit den Wolken, / Und ich weiß, sie kommt nur von Dir.«

Vom Schlager zum Schläger ist es in diesem Fall kein allzu weiter Weg. Gerda muss einen Vertrag unterschreiben, der sie zur Sklavin degradiert. Sobald sie nicht gehorcht, fängt sie sich eine. Weil sie es zu bunt treibt, muss sie sterben. Und Honka macht weiter wie bisher. Im »Goldenen Handschuh« weiht er mit seinen Kompagnons die direkt an der Bar angebrachten Pissrinnen ein und wartet zwischen den St. Pauli-Gesangsnummern der anderen Gäste ab, bis die nächste arme Seele in seinem Kabuff eine Zuflucht sucht.

Im Vergleich zu den privaten Lesesesseln der Republik sind die Zuschauerreihen in staatlichen Theatern überwiegend von Menschen besetzt, deren größte Lebenssorge in der Frage bestehen dürfte, ob denn nach der Vorstellung schon wieder eine Möwe auf die Motorhaube ihres Autos gekackt haben wird. Da ist natürlich die Gefahr groß, einen Unterschichtenklamauk zu produzieren, bei dem die Leute im Parkett so richtig über diese Vollpfosten ablachen können.

Hier kommt der künstlerisch beste Kniff in Strunks Roman zum Tragen. Als Kontrast zu den Schmiersuffbetäubten hat er die Hamburger Reederfamilie von Dohren in den Plot eingeflochten. Deren menschliche Verkommenheit führt die Sippe nur darum nicht in den Abgrund, weil Niedertracht eine Grundbedingung ist für nahezu jeden ökonomischen Erfolg im Kapitalismus.

Unternehmersprössling Wilhelm Heinrich von Dohren junior (Jonas Hien) ist wie Honka ein Leibeigener seines Triebs. Er trippelt verklemmt über die Bühne und stolpert beim ersten Ausflug auf dem Kiez in den »Goldenen Handschuh« hinein. Dort riecht Soldaten-Norbert köterhaft dessen Angst und drangsaliert das gestriegelte Muttersöhnchen genau so, wie es ein Rowdy auf dem Schulhof tun würde. Aus Mitleid spricht die Prostituierte Petra (Gala Othero Winter) den Gepeinigten an. Sie denkt aber gar nicht daran, Wilhelm Heinrich kostenlos an sich heranzulassen und verbringt die Nacht lieber mit dessen problemlos zahlendem Vater. So kalauerreich diese Szenen auch dramatisiert sind, eines machen sie ohne jeden Zweifel deutlich: Wäre dieser von Dohren nicht durch den Geburtszufall begünstigt, aus ihm hätte auch ein Frauenmörder werden können.

Warum Honka ein soziopathisches Wesen war, das klärt sich in dem Moment auf, da er ein Wunder auf sich zusteuern sieht. Dem Alkohol schwört er vorerst ab, denn er hat einen Job als Nachtwächter bekommen. Während der ersten Schicht trifft er auf die Putzfrau Helga (Lina Beckmann), in die er sich sofort verliebt. Ihr vertraut er seine Lebensgeschichte an. Dass sein Vater im KZ umkam. Dass er als Kind ins Heim musste. Dass der in Leipzig geborene »Fiete« aus der DDR floh. Dass er bei einem Bauern unterkam. Und dass dieser Mann ihn jahrelang gefoltert und vergewaltigt hat. Seine zerstörte Seele ist ebenso auf dieses Martyrium zurückzuführen wie sein zerdeppertes Antlitz.

Lange dauert es nicht, da stellt sich Helga als Frau des auf ekelhafteste Weise chauvinistischen Bosses Erich Denningsen (Josef Ostendorf) heraus. Und Honka landet wieder ganz unten. Welcher Verzweiflungsschmerz in ihm wuchern muss, das lässt sich besonders in dieser Sequenz mit im Halse stecken bleibendem Lachen erahnen. Nachfühlen lässt es sich aber nur beim Lesen des Romans, in dem der Erzähler das Gemüt des Fritz Honka ergründet: »Er stellt sich eine andere Welt vor, in der er selbst jung und gesund und sein Atem angenehm ist und er einer nach Rosen duftenden Frau mit reiner Haut, schönem Gebiss und einem makellosen Körper den Himmel auf Erden bereitet.«

Nächste Vorstellungen: 10., 11., 17. und 18. Dezember

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