Mut? Weit mehr: Anmut

Zum 75. von Peter Handke ein neues Epos des Dichters: »Die Obstdiebin«

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 7 Min.
Hör den Ton, der nichts nachweisen will. Vertrau dem Blick. Welchem? Jenem ersten? Der sogar die Magie haben soll, Liebe zu begründen? Nein, jeder erste Blick ist auch Begründer von Fehl- wie Vorurteilen. Wahre Lebenskunde möchte, wie Peter Handke schrieb, »den zweiten Blick lehren«.

Der zweite Blick. Wofür? Hier für die Wege der »Obstdiebin« und des Mannes auf ihren Spuren. Handke schrieb vor Jahren einen sehr besonderen Zyklus von Erzählungen, Versuche über die Jukebox, die Müdigkeit, den geglückten Tag, später über den Pilznarren und den Stillen Ort. Darin die Fügung vom »entdeckerischen Verirren« - einer umkreisenden Erzählweise, die auch auf diese dreitägige »einfache Fahrt ins Landesinnere« zutrifft. Überhaupt mischt sich dem Lesen des überwältigenden neuen Buches ständig Erinnerung bei - an andere Werke des Dichters. Erinnerung? Eher Leibhaftigkeit - eines Wortschatzes, darin wiederholt Hiesigkeit und Niemandsbucht vorkommen. Und in dem seit eh und je Zeit und Schwelle und Gehen und Verwandlung, ja: was? Vorherrschen? Erneut nein. Es gibt Worte, die können nicht herrschen, so, wie die Feststellung falsch ist, ein Frieden herrsche.

Entdeckerisches Verirren also. Kein Handlungsverlauf. Eher ein Handlungs-Verlaufen. Des Lesers Lust muss die eines Mitreisenden, Mitatmenden sein. Inmitten des Ereignislosen. »Raumtreue« hat Handke das genannt. Aber was heißt ereignislos? An einer Haltestelle stehen, das genügt, und die Welt tut sich auf. Handke und Weltflucht? Nie und nimmer. Was überhaupt ist Welt? »Dreiecksgeschichte zwischen einem selber, der Natur und den Anderen.«

Der Erzähler tritt auf einen losen Kanaldeckel, und schon schnellt eine Dreierschaft Polizei, schwer bewaffnet, zu ihm herum. Oder er bemerkt, dass ihn aus den finsteren Gesichtern von Asylbewerbern Freundlichkeit anfliegt, »welche mit der handelsüblichen nichts gemein hat«. Das Geringe und das Gewaltige - zugleich. An jeder Stelle. Bleistiftspitzen, ja, aber wir sind im Terror-Terrain 2016; Schuhputzen, ja, aber wir sind getroffen vom weltweiten Flucht-Fluch; Apfelschälen, ja, aber der Krieg, sonstwo und doch sehr nah, bewegt sich auf altbewährte Weise: Er kriegt sich nicht ein.

Fahrkartenkontrolleure erscheinen, Clochards, Markthelfer, Gleisrandbesiedler, Dorfdeppen, Terrassensitzer, Stadtrandzeichner. Im Moment und noch einem Moment und so zahllosen weiteren Momenten blitzen Zeit und Geschichte auf. Oder unvermittelt die Frage: Wie riecht Armut? Lies und fühl, fühl und sink ein. »Einsinken«, für Handke eine Lebensbewegungsart. Einsinken, nicht Eingreifen, also Übergriff.

Der Erzähler sucht die Obstdiebin, die Obstdiebin ihre Mutter. Alexia, diese Diebin, ist Botschafterin gleichsam jener Apfelfülle, die Handkes Romane und Theaterstücke durchzieht. Obst stehlen: etwas mit sich gehen lassen, das Natürliche bei sich, in sich haben. Fruchtigster, saftigster, gesündester Materialismus. Alexia ist des Dichters poetischer Auftrag, ist Frau, aber auch Traumbild. Ein Schatten, aber fast nur aus Helle. Sie kommt von weither, ist ein Hauch Jenissei, ein Duft Paradies, ist »heimisch im Unerklärlichen«.

Der Weg geht vom Pariser Rand in die Picardie. Mehr nicht. Der Erzähler war gleich zu Beginn, mittsommers, von einer Biene in den Fuß gestochen worden (der Mensch benötigt zur Erweckung einen »Stich-Tag«); er spürt, dass es Zeit sei. Zeit zum Aufbruch. Und Zeit ist keine Uhrzeit, Zeit ist, wie gesagt: Schwelle. Und Erzählen ist »ein Schwingen weg von all dem Definierten«.

Der Dichter und das Unterwegs. Er sieht nicht, sondern er schaut. Gleich dem Türmer Goethes, der fragt: Was an Werdendem, was an Vergangenem singt im Bestehenden? Wie Hamlets Vater den Sohn missionarisch beauftragte, so erfuhr auch die Obstdiebin, die Unfassbare, von ihrem Vater Einflüsterung: »Du hast die Pflicht zur Macht. Du wirst die, welche es nötig haben, und es gibt sie, anders als du denkst, dein Licht sehen lassen, ihnen mit deinem Licht die falschen Wimpern verbrennen.« So ist sie Vor-Läuferin. Und zwar derer, die »jenseits all der ausgedienten ›Gesellschaftsverträge‹, sprich Ideologien, die ganz andere Gesellschaft bilden«. Bald, nie, jetzt schon.

Die Reise selbst: Serpentinen und Bars, Kirchmessen und Trauerfeiern, Untertreppenhöhlen und Kebab᠆buden. Am Ende eine Arbeitersiedlung und ein Familienfest. Und das Dickicht der Auen. Die Diebin, begleitet von Hund, mal Rabe, mal Fasan. Ach ja, da ist auch - einprägsam! - der Pizzabote und jener andere Mann, auf der Suche nach seiner Katze. Erzähler und Obstdiebin (»ich allein bin drei Wanderer«) treffen auf Verlorene und Verlogene, auf Vermessene und Vergessene, auf Verwundete und Verwunderte, auf Verluderte und Verlederte, auf Vernutzte und Vernetzte.

Erzählers Gedanken im Vorortzug: »Weg mit all euch Verschleierten und Vermummten, um Gottes willen.« Aber gleich darauf der Nach-Schlag gegen die anderen, die »verlarvten weiblichen Körper« der eigenen, westlichen Welt. Plötzlich steht eine junge Frau auf, verzweifelt rebellisch, angeekelt vom Fortschritt zwischen französischer Revolution und den heutigen Bürgerbelästigungen durch Streiks, plebejische Grobheit und Schürung nationalen Hasses: Früher »die Königskiller im Namen der Menschenrechte, jetzt die Landzerstörer im Namen der sozialen Bewegungen«.

Schön: Handkes heiliger Jähzorn. Er verachtet herzlich ein Großteil Zivilisationspersonal - diese Wahrheitsbesitzer, diese Radikalgernegroße, diese Gesinnungsschwitzenden, diese satten und gehaltsgefesselten Unlebendigen, die angstvoll Haltelinien ziehen, weil sie unfähig sind, Sternbilder zu malen. Wo einst der leise Durchdrungene etwas galt, besetzten doch längst laute Eindringlinge die Plätze. Da! Ein Nachbar, der sich bedroht fühlt allein von der Stille, die aus dem Haus des Erzählers kommt. Handkes Witz blitzt auf: Kurzerhand erklärt einer das Jahr zum »Jahr der Haselnüsse«, genervt von all den anderen Jahren - »des Erbarmens, der geschlagenen Frauen, der zerrissenen Schuhbänder«.

Der Erzähler fühlt sich als »Illegaler«, inmitten der vielen rechthaberisch Gerechtfertigten. Er ist auf Suche nach den ach, so elend wenigen »Erreichbaren« in der »Masse und Rasse der Unerreichbaren«. Aber! Er sagt: »meine« Unerreichbaren. Er weiß zwar, »oder ich glaube zu wissen: niemand und nichts kann sie erreichen, kein Wahres wie Schönes, und schon gar kein, es war einmal, ›Gottschönes‹, keinen einzigen von ihnen ... Aber ich brenne seit je darauf, es zu schaffen, dass sie Erreichbare würden - Aufhorchende - Offene - Antwortende (und sei es wortlos).« Handke: Menschenfreund.

Kein Schau-Lustiger ist er, aber ein Heiterer des Aufschauens; er berührt die Dinge mit Händen, die nicht zugreifen, sondern deren Umrisse umgarnen. In einer Sprache, in der es mosaikisches Geschimmer gibt, Steppendistelsporen, Taubentrippelspuren, Flussuferschwalbensirren, Moosgrünbereich, Gallgeschmack, Bildschnuppenschwärme, Dorfkinderaugen. Und die Falter zickzacken.

An diesem Mittwoch wird der Solitär Peter Handke 75, er wurde 1942 im Kärntner Griffen geboren. Ort mit dem »See der Kindheit«, wo der geliebte Großvater Schilf schnitt. Der geliebten Mutter Maria wird der Jurastudent erschütternd liebe Briefe senden, nach ihrem Freitod 1971 schreibt er sie ein in eines seiner stärksten Bücher, »Wunschloses Unglück«. Früh hatte die Mutter in einem Brief erfahren: »Ich bin schon ziemlich zäh und außerdem werde ich sicher weltberühmt.« Seinen großen Roman »Mein Jahr in der Niemandsbucht« wird er an einem Waldsee schreiben und jeden Morgen eine Stunde Horaz im Original lesen, »damit der Kopf frei ist, und wenn das Schreiben anfängt, dann sind Spinoza und Goethe meine In᠆stanzen«.

Dieser Dichter glaubt an eine Welt, in der immer Zierlichkeit sein wird. Von welcher Öde auch umzingelt. Da sitzt auf einem Spielplatz, auf einer Schaukel, eine junge dunkelhäutige Frau. Der Erzähler erkennt sie: die Kassiererin vom Supermarkt. Banal: Mittagspause, mehr nicht, und doch sitzt dort plötzlich, »umspielt von Licht und Schatten, ein anderer Mensch, ein verwandelter, ein Wesen, so wie ich einmal jemanden, vor einem Kind, hatte ausrufen hören: ›Das ist ja kein Kind, das ist ein Wesen!‹«

Der Mensch als immerwährende Chance: eines »jederzeit möglichen Umschwungs ins Höhere und Offene«. Des Erzählers Blick verwandelt die Kassiererin, sie verwandelt den Betrachtenden. Zauber. Nicht die Stunde der Wahrheit schlägt, sondern »Die Stunde der wahren Empfindung«, wie ein Handke-Buch heißt. So geschieht »das gesetzmäßige Weltreich«. Peter Handke ist nicht mutig, sondern mutiger: anmutig. Lesen, schöne Zeit, so ganz anders messbar: ein Buch lang - Erlösung, Erleuchtung.

Peter Handke: Die Obstdiebin oder Einfache Fahrt ins Landesinnere. Suhrkamp, 560 S., geb., 34 €.

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