Die Nachhaltigkeit wurde vampirisiert
Alberto Acosta über den achtlosen Gebrauch eines ursprünglich revolutionären Begriffs
Dubai, das in einem extrem rauen Gebiet liegt, verbrennt für die Klimaanlagen seiner Häuser und gläsernen Wolkenkratzer Millionen Barrel fossiler Brennstoffe. Unmengen von Salzwasser werden erhitzt, um die Versorgung mit dem kostbaren Nass sicher zu stellen. Dubai verbraucht immer mehr Fläche in der Wüste, und sogar im Meer, wo Korallenriffe verbuddelt und Wüstensand herangeschafft wird, um künstliche Inseln zu errichten. Und die neueste Meisterleistung ist der Bau der ersten Skisport-Halle im Nahen Osten. Trotz dieser Begebenheiten nennt sich Dubai »nachhaltige Stadt«. Eine Stadt, die Teil eines Erdöl-Emirats ist.
Alle reden heute von Nachhaltigkeit. Der Begriff wird wahllos benutzt. Sein achtloser Gebrauch hat dazu geführt, dass eigentlich alles »nachhaltig« sein kann. Der eigentliche Sinn des Begriffes wird dabei überwunden bis willentlich ignoriert. Es werden Dinge als nachhaltig bezeichnet, die es von ihrer Beschaffenheit her überhaupt gar nicht sind. Und die es gar nicht sein können, etwa wie die modernen Städte. Tatsächlich aber verstehen sich viele moderne Städte als nachhaltig, und das obwohl wir längst wissen, dass ihr ökologischer Fußabdruck die städtische Fläche um ein Vielfaches überschreitet.
Es wird sogar von nachhaltigem Wachstum gesprochen. Dabei ist klar, dass die natürlichen Grenzen beschränkt sind, und ein unbegrenztes Wachstum auf Zeit unmöglich, also nicht nachhaltig ist. Die allergrößte Abweichung aber ist die Manipulation des Nachhaltigkeitsbegriffes mit der Absicht, Bergbau, die Förderung von fossilen Brennstoffen oder das Verbrennen von Braunkohle für die Stromgewinnung als nachhaltig zu labeln, so wie es der Energiekonzern RWE macht. Dieser ist gerade dabei, den Hambacher Forst in Nordrhein-Westfalen für noch mehr Profite abzuholzen.
In der Tat wurde der tiefergehende Sinn der Nachhaltigkeit vampirisiert. Sein Gebrauch wurde den verschiedensten Interessen untergeordnet, vor allem wirtschaftlichen. Die Nachhaltigkeit hat sich in eine Maske verwandelt, vor allem in Masken des kapitalistischen Fetischismus. Dieser Fetischismus hat die Fähigkeit unter Beweis gestellt, jedes Konzept auszusaugen, das sich gegen die Zivilisation des Kapitals stellt.
An dieser Stelle ist es angebracht, zu den Wurzeln des Begriffs der »Nachhaltigkeit« zurückzukehren. Seine Uraufführung auf globaler Bühne war 1992, auf der Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro. Damals hatte die »internationale Gemeinschaft« ein Entwicklungsmodell vorgeschlagen, das die wirtschaftliche Entwicklung, die soziale Wohlfahrt und die ökologische Integrität der Menschheit zusammenführt, das auch als Dreieck der Nachhaltigkeit bekannt ist. Ausgangspunkt dieser Befassung war der Brundlandt-Bericht von 1987, der Entwicklung erstmals mit ökologischen Forderungen konfrontierte.
Die Bedürfnissen der Gegenwart zu befriedigen, ohne die Bedürfnisse künftiger Generationen zu schädigen, war ein wichtiger Wandel. Noch weitergehender wurde eine Zukunftsvision entwickelt, in der die natürlichen Ressourcen nachhaltig genutzt würden. Das war ein Umkehrpunkt, um nach dem Scheitern des Berichts des Club of Rome von 1972 ernsthaft über die Grenzen des Wachstums nachzudenken.
Die Abnutzung der »Nachhaltigkeit«, zusammen mit den Begrenzungen der »Entwicklung«, zwingen uns zum Ursprung des Begriffes zurückzugehen. Es gab Nachhaltigkeit bereits in der Vergangenheit. Indigene Gemeinden auf der ganzen Welt haben bewiesen, dass sich Menschen für ein nachhaltiges Leben zu organisieren in der Lage sind. Die Beziehung von Nachhaltigkeit zur Erdmutter Pachamama oder Madre Tierra sind mehr als eine Metapher. Sie stellt »die Gesamtheit des Raums und der Zeit« dar, erinnert uns Yaku Pérez Guartambel, Indigenenführer aus Ecuador. Auch sagt Guartambel, dass »so wie niemand die biologische Mutter gering schätzt oder zu beherrschen versucht, so lassen sich auch die runas (Menschen auf Quechua) nicht unterwerfen, stattdessen sind wir vereint in der Liebe der Pachamama«.
Ohne die Schlüsse aus dieser tiefgründigen Annäherung vorweg zu nehmen, soll hier an einen deutschen Adligen erinnert werden, der den Begriff der Nachhaltigkeit zuerst zu Papier brachte. Hans-Carl von Carlowitz, Oberberghauptmann, war im Zuge der Holzkrise in Sachsen und anderen europäischen Ländern besorgt und schlug die Notwendigkeit vor, nicht mehr Holz auszubeuten als Holz nachwachsen kann. Doch ging Carlowitz in seiner »Sylvicultura oeconomica« (1713) noch weiter. Nicht nur sollte die Ausbeutung von Holz in vernünftigen Maßen gehalten werden, sondern er schlug auch vor, aktiven Waldschutz zu betreiben.
Wie Ulrich Grober in seinem fantastischem Buch »Die Entdeckung der Nachhaltigkeit - Kulturgeschichte eines Begriffs« darlegt, beschäftigte sich Carlowitz mit der biologischen Vielfalt und Integrität ökologischer Systeme. Er war gegen das schnelle, leichte Geld, das durch das simple Roden eines Waldes möglich war, und eine extraktivistische Rente darstellt. Für ihr war nicht etwa die Vermehrung des materiellen Reichtums relevant, sondern des Glücks von Wichtigkeit. Auch war ihm die Befriedigung der grundlegenden Bedürfnisse ein Anliegen. Alle sollten das Recht auf Nahrung und Überleben haben. Auch wenn das einige überraschen wird, widersetzte sich Carlowitz inmitten der imperialen Expansion Europas gegen den Kolonialismus als ein Mittel der Nachhaltigkeit, mit dem sich Europa den Rohstoffnachschub aus anderen Territorien und Ländern der Erde sicherte.
Aus den weitsichtigen Gedanken von Carlowitz lassen sich viele konkrete, kurzfristige Kampfesarenen ableiten: das Mindesteinkommen für alle Menschen, der Kampf gegen leichtes Geld durch Spekulation durch die Einführung einer Tobin-Finanztransaktionssteuer, das Schließen von Steuerparadiesen. Das Minus-Wachstum (Degroth), neue Regeln für den Weltmarkt, der viele Länder dazu verurteilt, ihre Nachhaltigkeit zu opfern, um an Mittel zu gelangen für mehr »Entwicklung«. Carlowitz vielleicht wichtigster Beitrag gründet sich in seiner tiefen Liebe zur Natur: »Mater Natura«, eine »gute Mutter«, in seinen Worten. Von dieser Liebe ausgegangen kann – wie bei der Vision der indigenen Pachamama-Vision – ein zivilisatorischer Wandel für das Überleben der Menschheit auf der Erde entworfen werden. Ein Überleben, das gründen muss auf der Überwindung des Antropozentrismus, inspiriert von biozentrischen Visionen.
Auch die instrinsischen Werte der Natur und Menschheit muss diese Ethik enthalten, die Schluss macht mit der zunehmenden Merkantilisierung von Natur und Menschheit. Darum geht es also: Es kann kein unmögliches Gleichgewicht geschaffen werden zwischen Wirtschaft, Gesellschaft und Ökologie. Der Mensch und seine Bedürfnisse stehen ganz vorne, noch über dem Kapital, aber dürfen sich nie der Harmonie der Natur als Grundlage aller Lebewesen wiedersetzen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.