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Das Rechtssystem in Indien ist revolutionär
Der Menschenrechtsanwalt Colin Gonsalves ist Pionier bei der Weiterentwicklung der Einklagbarkeit der Menschenrechte
Ich gehe davon aus, dass ich aktiv überwacht werde. In Indien hat die Regierung einen dramatischen Rechtsruck vollzogen, der die Demokratie unter Druck setzt. Damit einher ging die Repression gegen Nichtregierungsorganisationen. In den letzten Jahren wurden circa 1000 von ihnen verboten. Insbesondere diejenigen, die sich gegen den Staat wehren, laufen Gefahr, überwacht oder aufgelöst zu werden. Auf der Seite der Regierung gibt es eine Intoleranz gegen jeden, der sie kritisiert. Unsere Organisation hat indirekte Warnungen erhalten, und wir achten sehr darauf, uns innerhalb des rechtlichen Rahmens zu bewegen. Aber die Regierung braucht keine Gesetzesverstöße, um Organisationen zu verbieten. Wir sind sehr besorgt.
Colin Gonsalves wird von der Jury geehrt »für seinen unermüdlichen und innovativen Einsatz vor Gericht, um die grundlegenden Menschenrechte von Indiens marginalisiertesten Bürgern zu schützen«. In den 1980er Jahren gründete Gonsalves mit zwei Kollegen das Anwaltskollektiv »Human Rights Law Network«, das Menschen in Rechtsstreitigkeiten vertritt, die sich sonst keinen Anwalt leisten können. Dem Kollektiv gehören mittlerweile 250 Anwälte in ganz Indien an. 1952 geboren, gehört Gonsalves zu den Pionieren, die für Menschenrechte kämpfen, indem sie Gerichtsverfahren für das öffentliche Interesse anstrengen. Einer der größten Erfolge des »Human Rights Law Network« war das Verfahren gegen die Regierung Indiens für ein »Recht auf Nahrung« im Jahr 2001. Im Jahr 2013 wurde das Urteil in ein Gesetz umgewandelt, das die Regierung verpflichtet, Schülern ein Mittagessen bereitzustellen, sowie Schwangeren, jungen Müttern, Kleinkindern und Mädchen in der Pubertät die Lebensmittel zu bezuschussen. Außerdem muss die Regierung Getreide für 400 Millionen Menschen subventionieren, die unterhalb der Armutsgrenze von zwei US-Dollar pro Tag leben.
Foto: rightlivelihoodaward.org/Wolfgang Schmidt
Sie sprechen vom »Recht als konstitutionelle Waffe«. Wie kann Recht zu Wandel führen?
Das Rechtssystem in Indien ist anders als das in Europa. Es ist radikaler und revolutionärer. Indien erkennt nicht nur individuelle Rechte an, sondern auch Kollektivrechte. Auch wenn das Potenzial noch nicht ausgeschöpft wird, kann das zur Befreiung von Menschen genutzt werden. Denn das Gesetz ermöglicht, Rechtsstreitigkeiten im Interesse der Öffentlichkeit zu führen: Jeder hat das Recht, ein Verfahren für die kollektiven Rechte von Menschen anzustrengen. Jeder kann einen Rechtsstreit im Namen aller Obdachlosen führen oder im Namen aller Mangelernährten, aller Menschen mit Behinderung oder aller gefolterten Gefangenen. Das Repräsentieren von Gruppen ist sehr verbreitet in Indien.
Was passiert, wenn solch ein Prozess gewonnen wird?
Für die Regierung hat das dramatische Folgen. Beispielsweise unser Fall »Recht auf Nahrung«, der Auswirkungen auf 350 Millionen Menschen hat: Wir haben darauf geklagt, das Menschen einen fundamentalen Anspruch auf Nahrung haben. Hunger zu leiden, ist ein Vergehen am Recht auf Leben. Wir haben gewonnen, und die Regierung ist nun gezwungen, Millionen Dollar für subventioniertes Getreide auszugeben. Die Finanzbeamten sind nun zuerst den Menschenrechten verpflichtet und müssen Gelder für Wohnungen, Bildung, Gesundheit und Nahrung bereitstellen.
Welches Signal geht von der Verleihung des Alternativen Nobelpreises an Sie aus?
Ich sehe den Preis nicht als Auszeichnung für mich persönlich, sondern für die Tausenden von Aktivisten, die sich in einer Art von spirituellem Widerstand gegen die Schikanen des Staates wehren, gegen dessen Arroganz. Wir Anwälte sind Teil einer sozialen Bewegung von Juristen und Aktivisten, wobei wir Anwälte von den Aktivisten lernen müssen.
Hat die Auszeichnung auch eine Bedeutung über Indien hinaus?
Im Westen hinkt die Rechtsprechung in Bezug auf Menschenrechte den spannenden Entwicklungen in Südostasien oder Südamerika um 20 bis 30 Jahre hinterher. Es ist fast, als ob die entwickelte Welt unwillig ist, ihr Rechtssystem weiterzuentwickeln und Kollektivrechte anzuerkennen. Die westlichen Universitäten öffnen sich nicht den dynamischen Entwicklungen auf dem Gebiet der Menschenrechte außerhalb von Europa, den USA oder Kanada. So bleiben zukünftige Generationen von Juristen an die Vergangenheit gefesselt. Die Studierenden im Westen brauchen eine große Dosis vom politischen, radikalen, revolutionären Denken, das es in der sich entwickelnden Welt gibt. Wieso ist der Westen auf den Gebieten Wirtschaft, Industrie und Technologie führend, aber bei der Rechtsprechung herrscht Stagnation?
Was glauben Sie?
Ich glaube, das ist eine Komfortzone, in der man an einer alten Rechtsprechung festhält. Der Westen hat Angst davor, dass die Jungen radikal werden - als ob das etwas Schlechtes wäre. Deutsche Architekten nach dem zweiten Weltkrieg waren radikal. Der Schengen-Raum war eine revolutionäre Idee. Aber beim Recht herrscht Stagnation. Wieso verweigert sich der Westen, Rechtsentwicklungen aus Südostasien oder Südamerika zu integrieren? Dort gibt es Visionäre und Pioniere auf dem Gebiet der Menschenrechte.
Der Alternative Nobelpreis
Der »Right Livelihood Award« wird seit 1980 vergeben, um mutige und engagierte Menschen und Organisationen zu ehren, die mit Visionen oder tatsächlichen Lösungen globale Probleme angehen. In der Öffentlichkeit ist die Auszeichnung auch als Alternativer Nobelpreis bekannt. Es besteht keine institutionelle Verbindung zum Nobelpreis; der »Right Livelihood Award« wird über Spenden finanziert.
Der schwedisch-deutsche Publizist Jakob von Uexküll gründete den »Preis für richtige Lebensführung« aus seinem privaten Vermögen. Der Preis versteht sich als sozial orientierte kritische Alternative zu den traditionellen Nobelpreisen, die nach Meinung Uexkülls von westlichen und konservativ orientierten Preisträgern dominiert sind. In der Regel teilen sich drei Preisträger die dotierte Geldsumme, in diesem Jahr 315 000 US-Dollar. Seit 1982 wird üblicherweise auch ein undotierter Ehrenpreis vergeben.
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