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  • Verfassungsschutz nach dem NSU-Terror

Sicherheitsrisiko Verfassungsschutz

Es ist Zeit, den Inlandsnachrichtendienst unter demokratische Kontrolle zu bringen. Vier Thesen

  • Hajo Funke
  • Lesedauer: 9 Min.

1. These: Die Aufklärungsblockade des Bundesamts für Verfassungsschutz über seine eigene Tätigkeit ebenso wie über seinen Quellenschutz für Spitzel, verdeckte Ermittler und Doppelagenten widerspricht dem Demokratiegebot.

Das Demokratiegebot setzt den Rechtsstaat voraus. In ihm schafft sich der Souverän selbst die Gesetze, die die Herrschaft zu kontrollieren vermögen. Dieser grundlegende Sachverhalt wird dann durch die Exekutive unterlaufen, wenn bestimmte Arkanbereiche den Abgeordneten der Legislative, den Gerichten und auch der Öffentlichkeit entzogen sind. Bis zur Verabschiedung der Notstandsgesetze 1968 lag die Geheimdiensttätigkeit nicht in der Kompetenz der deutschen Verfassung, sondern wurde nach den Verabredungen mit den Alliierten von letzteren bestimmt, allerdings nicht ohne bundesrepublikanische Institutionen als ausführende Organe. Dies sollte mit den Notstandsgesetzen 1968 nachgeregelt werden: Nach Art. 10 GG können Einschränkungen des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses vorgenommen werden, allerdings nicht ohne eine wenigstens nachträgliche Kontrolle durch die Judikative (nach Art. 19, Abs. 4, Satz zwei).

Das Buch
Sechs Jahre nach Auffliegen des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) und nach einem knappen Dutzend parlamentarischer Untersuchungsausschüsse lässt sich das Ausmaß des politischen Skandals um die Verstrickung staatlicher Institutionen in den rechten Terror gerade erst erahnen. Der Rechtsextremismus-Experte Hajo Funke, bis 2010 Professor für Politikwissenschaften für an der FU Berlin, reiht das Versagen des Verfassungsschutzes ein in eine lange Reihe unsäglicher Begebenheiten von der frühen Bundesrepublik bis zum aktuellen Fall Anis Amri - und fordert Konsequenzen.

Nebenstehender Text ist ein gekürztes Kapitel aus seinem Buch: Sicherheitsrisiko Verfassungsschutz. Staatsaffäre NSU: Das V-Mann- Desaster und was daraus gelernt werden muss. VSA Verlag Hamburg, 240 Seiten, 16,80 €.

Es ist offenkundig das politische Ziel, diesen allergeheimsten Arkanbereich, so wie er ist, unter allen Umständen ohne weitere Kontrolle zu verteidigen. Dafür spricht, dass bisher keine eigenen Vorstellungen zu einer effizienten Kontrolle vorgesehen sind, sondern stattdessen Ideen zur Straffreiheit für die V-Leute, also einer weiteren Stärkung des absoluten Quellenschutzes. Hinzu kommt, dass, ohne mit der Wimper zu zucken, jeweils das Bundes- oder Staats- oder Landeswohl angeführt wird, wenn es um eine auch nur partielle Aufklärung des Sicherheitsversagens in der Mordserie des NSU geht. (...)

Unterlegt ist im Stil autoritärer Selbstherrlichkeit eine Rechtfertigungsideologie staatlicher Stellen, nach der das Staatswohl gebiete, nicht nur die V-Leute, sondern sich selbst und die Institution vor der Transparenz, der Öffentlichkeit und vor dem Untersuchungsausschuss zu schützen. Mit der Vernehmung der in diesem Zeitraum Zuständigen im Bundesamt, insbesondere des Staatssekretärs im Bundesinnenministerium, Klaus-Dieter Fritsche (am 18. Oktober 2012), wurde klar, dass Blockade und Vertuschung zentraler Informationen mit einem autoritären Amtsverständnis zu tun haben. Denn Fritsche hat nicht nur seine Verachtung gegenüber der politischen Aufklärungspflicht des Parlaments kundgetan, sondern darüber hinaus die Vertuschung des Bundesamts mit dem absoluten Quellenschutz verteidigt, obwohl die Aufklärung über Inhalt und Träger der Daten von entscheidender Bedeutung für die Aufklärung des Versagens bei der Mordserie bleibt. Die Begründung für die Blockade ist gravierend: Der absolute Schutz vom Verfassungsschutz angeworbener Neonationalsozialisten (als Quellenschutz) geschehe aus einem übergeordneten Staatswohlinteresse. (...)

Der Staatsrechtler Ulrich Preuß bezeichnet eine solche permanente Unkontrollierbarkeit als permanenten Ausnahmezustand - aber es sei im Grunde mehr: Die permanente Unkontrollierbarkeit stehe außerhalb der Normalität bzw. der Normalitätsvorstellung des Rechtsstaats. Es wäre eine Institution außerhalb des Rechts, eine extralegale Institution. Obwohl formell in die Legalitätsstruktur des Rechtsstaats quasi-legalisiert, ist sie de facto nicht in die Struktur des Rechtsstaats eingefügt. Unter dem Mantel eines rechtsstaatlichen Regelsystems ist sie weiterhin eine Institution außerhalb der Legalität - im Grunde eine extralegalitäre Institution. (...)

Über dreißig Mal wurde Tino Brandt angeklagt, ohne ein einziges Mal verurteilt und bestraft worden zu sein - nicht einmal für die Anstachelung eines rassistischen Beinah-Mords in Gräfenthal. Ähnlich bei Thomas Dienel, der vom LfV offenkundig die Aufforderung erhielt, in den Untergrund zu gehen. Der Grundsatz »Jeder ist vor dem Gesetz gleich« ist in mehreren Fällen belegbar und wiederholt, und wie es scheint systematisch, zugunsten einer De-facto-Straffreiheit bzw. extremen Strafmilderung, in einem Fall mit der Täuschung der Justiz, gebrochen worden.

Durch die Entwicklung über Jahre, zum Teil über Jahrzehnte, ist mit den Mitteln der Täuschung und dem Handeln an den selbstgesetzten Regeln vorbei (kein Einsatz von Schwerkriminellen, kein Einsatz von Topfunktionären in rechtsextremen Parteien, keine Begehung von kriminellen Taten) ein eigenes, vordemokratisch-autoritäres Klima geschaffen worden.

2. These: Es ist an der Zeit, das Bundesamt für Verfassungsschutz unter demokratische Kontrolle zu bringen. Dass es sich Regierungen leisten können, de facto hierzu nichts an Veränderungen vorzunehmen, ist ein dreifaches Schwächezeichen unserer Demokratie: der exekutiv Zuständigen, der Parlamente und der demokratischen Öffentlichkeit. (...)

Die Verantwortung des BfV hat drei Dimensionen: Die erste zeigt sich in dem Unwillen, angemessen die zugeordneten Dienststellen des Sicherheitsapparats über Gefahren des gewalttätigen Rechtsextremismus zu informieren. Dies geschah zwar, aber eher auf der Basis taktischer Zwänge, das eine oder andere auch zu veröffentlichen.

Die zweite Dimension ist sehr viel entscheidender: Sie liegt darin, dass Teile des Bundesamts in den entsprechenden Abteilungen ein doppeltes Spiel gespielt haben. Sie haben um den Einsatz von zentral und dezentral geführten, strategisch eingesetzten V-Leuten gewusst und sich selbst verpflichtet, darüber unter allen Umständen zu schweigen, und dies auch so gut es ging (und es ging recht gut) politisch durchzusetzen. In Letzterem liegt die eigentliche Verantwortung für das Sicherheitsdesaster in der Frage der Mordserie des NSU und seines Umfelds.

Schließlich gehört eine dritte Dimension der Verantwortung hinzu: nach dem Scheitern nicht alles zu tun, um den eigenen Anteil aufzudecken. (...)

Das Puzzle an rechtsterroristischen Taten und Netzwerken liegt inzwischen klar vor uns - und auch die schwarz-blauen Adern des staatlich gestützten Netzwerks. Wir haben die Radikalisierung des Kerntrios des NSU im Jena der frühen 1990er Jahre, seine Entwicklung zum NSU und der Mordserie zwischen 2000 und 2007 beschrieben und gezeigt, wie der Schatten der Geheimdienste das NSU-Netzwerk begleitet hat. Der in Sicherheitsbehörden und Teilen der Öffentlichkeit präsente Rassismus hat dazu beigetragen, dass die Aufklärung der Morde vor allem an griechischen und türkischen Mitbürgern über ein langes Jahrzehnt blockiert wurde. (...)

Inzwischen sind immerhin durch den öffentlichen Druck die Zuständigen, also Polizei, Bundesanwaltschaft und Verfassungsschützer, in die Defensive geraten und haben mit der Erklärung, zur Aufklärung beizutragen und im Fall des Oktoberfestattentats und nun des Falls Amri sogar neue Ermittlungen aufzunehmen, darauf reagiert. Der Druck ist größer als in den letzten fünf Jahrzehnten, und er ist noch einmal mit den Skandalen der Sicherheitsbehörden im Falle des Breitscheidplatz-Attentäters gestiegen. (...)

Zu den Konsequenzen zählt ein Ende der Inlands-Geheimorganisation im Ausnahmezustand und ohne effektive Kontrolle, d.h. eine Reform an Haupt und Gliedern, die die Abschaffung der V-Leute in der bisherigen Form zum Ziel hat, die Etablierung einer unabhängigen Kontrollinstitution und eine Stärkung der Zivilcouragierten in einem Whistleblower-Schutz. Für die Sicherheitsorgane heute, also etwa die Polizei-Institutionen, und für die Geheimdienste brauchen wir eine Kontrollstruktur, die demokratisch und unabhängig verläuft, und die systematisch die in den verschiedenen Analysen und Untersuchungsausschüssen aufgedeckten Verselbstständigungen unterbindet. (...)

Ziel müsste meines Erachtens die Auflösung des Inlandsgeheimdienstes in der bisherigen Form sein. Er müsste entweder neu gegründet oder umfassend umstrukturiert werden, und zwar zugunsten polizeilicher Funktionen in Staatsschutz und Bundeskriminalamt, die auf geprüfte interne Kontrollen bauen können, die es allerdings noch zu verbessern gilt. (...)

3. These: Der Schutz vor Grausamkeit, Verachtung und Rassismus korrespondiert mit einem erweiterten gesellschaftlichen Sicherheitsbegriff, der nicht auf die autoritären Sicherheitsorgane begrenzt ist, sondern sich als Gesellschaft so im Sinne eines gesellschaftlichen Friedens entwickelt, dass die Funktion von Polizei und Ordnungskräften diesem gesellschaftlichen Befriedungs- und Friedensprozess entspricht.

Vor diesem Hintergrund können die Sicherheitsorgane in einem solchen demokratisierten, nicht rassistischen Gesellschaftsverständnis selbst angemessen demokratisiert und rechtsstaatlich verantwortlich entwickelt werden und funktionieren.

Gegenwärtig stärkt die Schwächung der Funktionen des Rechtsstaats diejenigen Kräfte, die in einem Rambo-Verfahren den Widerstand gegen die Republik und ihre Fairness gegenüber Flüchtlingen flüchtlingsfeindlich und rassistisch entfesseln. Zusammen verändert dies die Koordinaten der Republik noch nicht wie in Weimar, aber es sind immer mehr ausdrückliche Bezüge zum Kampf gegen die Republik wie in Weimar zu beobachten. Die extreme neue Rechte in und nahe der Alternative für Deutschland (AfD) bezieht sich auf antidemokratische Texte der Weimarer Republik, die vom Faschismus Mussolinis fasziniert sind, wie auch Teile der extremen neuen Rechten vom heutigen italienischen Neofaschismus fasziniert sind.

Eine umfassende Aufklärung ist deshalb dringlich, weil die Gefahr eines neuen Rechtsterrors mit der Gewaltwelle gegen Flüchtlingsunterkünfte enorm zugenommen hat. Teile des NSU-Umfeldes beteiligen sich an dieser Gewaltwelle. Die Journalistin Andrea Röpke hat in der ersten Sitzung des Bundestagsuntersuchungsausschusses am 17. Dezember 2015 dargelegt, dass terrornahe Strukturen in Dortmund ebenso weiter existieren wie an anderen Orten. Um Kleinparteien wie Der Dritte Weg oder Die Rechte ist ein ideologisch aufgeladenes und gewaltbereites Netzwerk entstanden, das zudem Kontakte zu Hooligans, Rockern und Kriminellen hält. (...) Die terroraffinen Netzwerke der Neonazis sind langfristiger, vielfältiger, gefestigter und international vernetzter, als die Behörden uns dies weismachen wollen. Es gab und gibt eine im Untergrund agierende gewalttätige Naziszene - einen realen »Neonationalsozialistischen Untergrund«.

4. These: Eine wirksame Gewalteindämmung verläuft ansatzweise dort positiv, wo Politik und Zivilgesellschaft entschieden gegen die Akteure entfesselter Gewalt in der Öffentlichkeit vorgehen und Polizei und Justiz ihre Aufgabe effizient und zeitnah umsetzen. Zu einem solchen originär gesellschaftlichen und politischen Ansatz sollten die Sicherheitsbehörden in einer Art Dienstleistung stehen.

Eine solche Politik folgt dem Verständnis einer integrierten Prävention aus polizeilicher und justizieller Repression, einer öffentlichen Konfrontation mit rassistischen Thesen (von Thilo Sarrazin bis zur NPD) und einer sozial sensiblen Integration insbesondere von Jugendlichen, die, wenn sie ohne Perspektiven bleiben, für die Rechtsextremen anfällig wären.

Im Sinne einer langfristigeren sozialen Prävention ist es wichtig, dass sich Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene nicht desintegriert, abgewertet und alleingelassen oder gar überflüssig sehen. Niemand wird als Rassist geboren. Soziale Integration - vor allem durch Bildung für alle - ist vielleicht sogar die entscheidende soziale und kulturelle Prävention gegen ein Klima des Mobbings, der Entwertungen und der Sündenbockjagden. Wie wichtig dies von früh an ist, zeigt die Studie von Christel Hopf (1995) die nachweist, dass diejenigen, die in einem freundlichen, zugewandten Klima aufwachsen, nahezu immun gegen Ethnozentrismus und Rassismus sind. Es gehört daher zu den Kernaufgaben der Eltern, aber genauso sehr auch - ausgleichend - der Kindergärten, Grund- und weiterführenden Schulen, dass es ein solches Klima der gegenseitigen Anerkennung und zugewandten Unterstützung gibt. Es ist eine der Hauptaufgaben der Politik, niemanden zu demütigen oder allein zu lassen, erst recht keine Kinder. (...)

*

Die Gesellschaft und ihre Bürger stehen erneut vor der Herausforderung, vor allem sich selbst um eine Aufklärung der terroraffinen Netzwerke zu kümmern und eine Kontrolle, die diesen Namen auch verdient, durchzusetzen. Auf den Staat ist zu oft - das haben diese Jahre gezeigt - zu wenig Verlass.

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