Wo das Unbehagen haust

Nach dem Erfolg »The Lobster« kommt nun Yorgos Lanthimos’ Rachedrama »The Killing Of A Sacred Deer« in die Kinos

  • Thomas Blum
  • Lesedauer: 4 Min.

Zuerst sehen wir eine schwarze Fläche. Ein Choral ertönt. Weißes, rosafarbenes und rotes sich ineinander verschlingendes Gekröse, schleimigfeucht, eindeutig menschliche Innereien, mittendrin ein schwabbeliges, rhythmisch pumpendes Ding, ein menschliches Herz in Großaufnahme, das ist es, was wir sehen. Das sind die ersten Bilder, die uns Yorgos Lanthimos’ Film »The Killing Of A Sacred Deer« zeigt: das Innenleben des Menschen, nach außen gekehrt.

Die Kamera fährt langsam zurück, und wir sehen, dass das schwabbelige, pochende Ding, das schlagende Herz, zu einem menschlichen Körper gehört, dass es mittels Operationsbesteck freigelegt worden ist, und dass der zum Herz gehörende Körper, der gleich sein Leben aushauchen wird, mit grünem Krankenhausstoff abgedeckt ist.

Die nächste Szene zeigt die beiden Operateure, den Chirurgen und den Anästhesisten, einen tristen Krankenhausflur entlanglaufen, gelangweilt darüber fachsimpelnd, bis zu welcher Wassertiefe ihre teuren Armbanduhren dicht sind.

Es ist nicht auszuschließen, dass diese Bilder bereits vorausweisen auf die zu erzählende Geschichte: Die Grenze zwischen dem Leben und dem Tod ist ebenso dünn wie die zwischen dem Wunderbaren und dem Profanen, zwischen Zivilisation und Barbarei, zwischen Vernunft und Wahnsinn, zwischen dem Schutz des Lebens und dessen Zerstörung.

Steven Murphy ist Herzchirurg, seine Ehefrau Anna ist Augenärztin. Mit ihren beiden Kindern, einer pubertierenden Tochter, die im Schulchor singt, und einem kleinen Sohn, der das Klavierspielen erlernt, leben sie in einem großen schönen Haus in der US-amerikanischen Vorstadtidylle. Das Sexualleben des wohlhabenden Ehepaars scheint in Maßen lebhaft und hochgradig ritualisiert: »Vollnarkose?« fragt Anna ihren Ehemann vor dem abendlichen Geschlechtsverkehr, bevor sie sich, nackt und vollständige Bewusstlosigkeit simulierend, ihm hingibt.

In Arbeitspausen trifft sich Steven, der erfolgreiche Arzt, mit dem dubios scheinenden Jugendlichen Martin. Das Verhältnis, das beide zueinander pflegen, ähnelt einer Art belasteter Stiefvater-Stiefsohn-Beziehung. Und es gibt Rätsel auf. Warum verheimlicht Steven, der erfolgreiche Chirurg, seiner Familie und seinen Arbeitskollegen die Treffen mit dem 16-jährigen Martin, dem jugendlichen Sonderling? Warum lügt er? Warum die ganze Heimlichkeit?

Nach und nach stellt sich heraus, dass die Idylle nur eine Fassade ist: Der Jugendliche, den Steven aus unerfindlichen Gründen regelmäßig zu treffen scheint, tritt ihm gegenüber mit beunruhigender Impertinenz auf und entwickelt im Lauf der Zeit eine unergründliche wachsende Macht über die Familie. Fast scheint es, als habe Steven, der in Martins Beisein stets ebenso unsicher wie schweigsam wirkt, sich vollständig in Abhängigkeit von dem suspekt und diffus bedrohlich wirkenden Teenager begeben, mit dem es irgendwann zum Streit kommt.

Weitere seltsame, rätselhafte Dinge geschehen: Von einem Tag auf den anderen kann Bob, der kleine Sohn des Arztehepaars, nicht mehr die Beine bewegen und nicht mehr laufen. Kurze Zeit später trifft es auch Kim, die Tochter. Beide Kinder sind plötzlich von einer mysteriösen Erkrankung ans Bett gefesselt und verweigern die Nahrungsaufnahme. Eine zuverlässige ärztliche Diagnose bleibt aus.

Und schon bald finden wir uns in einer Mischung aus ungemütlichem Psychodrama und alttestamentarischer Rachegeschichte wieder, die uns an den Rand der menschlichen Abgründe führt.

Lanthimos’ oft tragikomische Filme schaffen seltsame Welten, in denen das Unbehagen und das Unheimliche haust und in denen das mal groteske, mal beängstigende, mal verzweifelte Handeln der Figuren nie erklärt, sondern nur gezeigt wird. Wir sehen seine Figuren in unbelebten, blassen, kränklich beleuchteten Räumen herumstehen oder -sitzen, und wir wissen: Hier stimmt einiges nicht, hier ist etwas kaputt.

In all seinen Filmen - etwa »Dogtooth« (2009) oder »The Lobster« (2015), die häufig dystopisches, verstörendes Drama und schwarze Komödie in einem sind, - finden wir wiederkehrende Themen: gestörte zwischenmenschliche Beziehungen, die dysfunktionale Familie, die Rätsel der Sexualität, die Anpassung an und das Aufbegehren gegen gesellschaftliche Konventionen, Verbrechen und Strafe, die Grausamkeit des Menschen als Grundkonstante des Daseins und die Absurdität des menschlichen Lebens angesichts des Todes. Die Filme des griechischen Regisseurs, im Grunde Bestandsaufnahmen eines beschädigten Lebens, besitzen in ihrer stillen, unaufgeregten Ästhetik des Schrecklichen auch eine geradezu meditative Qualität. Und ähnlich wie im Frühwerk Michael Hanekes zeigt sich ihr verstörendes Potenzial meist erst nach und nach im Lauf des Geschehens. Allerdings, und das unterscheidet sie von denen des strengen Österreichers, vermitteln Lanthimos’ Filme »eine Vorstellung davon, wie Filme von Michael Haneke aussehen könnten, wenn sie Humor hätten« (»Die Presse«). Es kommt einem so vor, als sähe man einen schweren Autounfall in extremer Zeitlupe: Die Beklemmung, die man als Zuschauer empfindet, wächst kontinuierlich. Und man ahnt: Alles wird immer schlimmer und steuert am Ende auf die unausweichliche Katastrophe zu, man kann nichts dagegen tun. Man sitzt im Kino und ist dazu genötigt, dem Ganzen hilflos zuzusehen.

Lanthimos’ Filme, bizarren Humor und radikale Gesellschaftskritik miteinander verbindend, lassen den Zuschauer am Ende mit einem Unbehagen zurück und, so der britische »Independent«, mit dem starken »Drang, nach einem Geländer zu greifen«. Es wäre schön, man könnte das über mehr Filme aus der gegenwärtigen Produktion sagen.

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