- Politik
- Flüchtlinge
Grenzen erfahren
Mit dem Fahrrad auf der Balkanroute an die serbisch-kroatische Grenze, um dort gestrandeten Flüchtenden zu helfen
Die Fragen, die auf mich einprasseln, werden jäh unterbrochen von einem Kleinwagen und zwei Kleinbussen, die auf den Parkplatz rollen. Autotüren gehen auf, ein gutes Dutzend junger Menschen steigt aus. Thermoboxen werden ausgeladen, ein Bierzelttisch aufgebaut, darauf eine Essensausgabe improvisiert. Blitzschnell stellen sich die Männer davor in zwei langen Reihen auf. Bei der Essensverteilung wird herumgewitzelt, die Stimmung ist heiter. «Heute Abend feiern wir das Ende von Ramadan», werde ich aufgeklärt. «Normalerweise kochen wir immer vegetarisch, aber heute gibt es zur Feier des Tages Hühnchen.»
Was wie ein heiteres Fest anmutet, ist in Wahrheit ein Ergebnis europäischer Abschottungspolitik. Unmittelbar an der Grenze zu Kroatien gelegen ist Šid mit seinen 16 000 Einwohnern Transitort und Warteraum zugleich für schutzsuchende Menschen auf ihrem Weg nach Westeuropa. Seit Ungarn im Sommer 2015 einen Grenzzaun zu Serbien errichtet hat, versuchen viele, über die kroatische Grenze weiter nach Westen zu gelangen. Doch nur wenige schaffen es. Hunderte hängen dauerhaft in Šid fest.
Eine staatliche Versorgung gibt es trotz allem nicht. Während Kommunalpolitiker und Verwaltungsbeamte jede Unterstützung verweigern und die Flüchtenden aus dem Stadtbild vertreiben wollen, bemühen sich ehrenamtliche Gruppen und NGOs, das Versorgungsvakuum zu füllen. Freiwillige aus ganz Europa, einige gar aus Südamerika, kochen und verteilen mit der anarchistischen Gruppe «No Name Kitchen» einmal am Tag eine warme Mahlzeit. Weitere kleine NGOs organisieren mobile Duschen, «Ärzte ohne Grenzen» sorgt für eine rudimentäre medizinische Versorgung.
Nach der Zerstörung des von Flüchtenden selbstorganisierten Camps in den Belgrader Baracken durch die Polizei Mitte Mai hat sich die Anzahl Flüchtender in Šid stetig vergrößert. Und auch die Arbeit der Freiwilligen hat sich hierher verlagert. Ich werde in den nächsten Tagen Teil dieser Gruppe sein.
Die Situation der Schutzsuchenden in Šid ist katastrophal. Viele von ihnen übernachten in einem alten Fabrikgelände. Schlafen müssen sie zwischen Schutt und Müll auf dem blanken Beton. Manche von ihnen haben zusätzlich ein Zelt in die verdreckten Räume gestellt, andere besitzen nur eine Decke. Wer keinen Platz im Gebäude gefunden hat oder aus Angst vor der Polizei außerhalb die Nacht verbringen will, schläft entweder in den Büschen oder in den ein paar Kilometer entfernten Sonnenblumenfeldern.
Sicher ist niemand von ihr. An einem Morgen erreicht plötzlich die Nachricht eines Flüchtenden die Freiwilligen: Im Morgengrauen seien Polizisten und Grenzbeamte in das Fabrikgelände eingedrungen. Wir sind in heller Aufruhr, fahren sofort hin. Vor Ort erfahren wir von den völlig aufgelösten Männern, dass 80 bis 100 von ihnen festgenommen und in das 700 Kilometer entfernte geschlossene Camp in Preševo gebracht wurden. «Sie haben uns gejagt, mit Hunden sind sie hinter uns hergerannt», erzählt mir Saqib aus Afghanistan, der es geschafft hat zu entkommen.
Der Name Preševo löst bei den Flüchtenden ein Schaudern aus. Viele von ihnen waren bereits dort. In Preševo drohen den Inhaftierten Abschiebungen in ihre Herkunftsländer, meist ohne rechtsstaatliche Verfahren. Rechtzeitig aus dem Camp wieder freizukommen, ist eine Frage des Geldes. Nur wer genügend Geld hat, kann sich bei den Polizisten freikaufen. Und nur wer dann noch genügend Geld besitzt, kann die umgerechnet 300 Euro zahlen, die die Mafia verlangt, um die Schutzsuchenden zurück nach Šid zu bringen. Denn öffentliche Verkehrsmittel gibt es nicht. Flüchtende sind eine Ware, an der sich alle bedienen. Das lerne ich hier immer wieder.
Auch uns Freiwillige versucht die Polizei einzuschüchtern und in unserer Arbeit zu behindern. Ab und an nimmt sie einige von uns mit zur Kontrolle der Papiere aufs Revier. Nach stundenlanger Warterei können wir dann ohne jegliche Erklärung wieder gehen.
Gehen würden auch die Flüchtenden gerne. Keiner von ihnen will in Serbien bleiben. Šid ist nur eine von zahlreichen Durchgangsstationen auf ihrer langen Fluchtroute. Von hier aus begeben sie sich «in the game», wie sie zynisch ihre Versuche nennen, unentdeckt über die nächste Grenze zu gelangen. In kleinen Grüppchen von zwei, manchmal drei oder vier Männern machen sie sich auf, um im Schutz der Nacht zu Fuß über die grüne Grenze nach Kroatien zu gelangen. Zu erkennen sind sie an ihren Rucksäcken, die sie auf dem Rücken tragen, wenn sie am Abend an der Essensausgabe erscheinen. Eine letzte warme Mahlzeit, Abschied nehmen von den anderen.
Erfolgreich sind die Wenigsten. Während die einen mehrere hundert Euro an Schlepper bezahlen, versuchen es andere auf eigene Faust. «Ich habe schon 28 Mal versucht, über die Grenze nach Kroatien zu kommen, jedes Mal bin ich von der kroatischen Polizei erwischt worden», erzählt mir der 21-jährige Said aus Afghanistan. «Manche hier haben es schon über 50 Mal probiert.» Werden die Refugees beim Übertreten der Grenze von kroatischer Polizei entdeckt, zwingt diese sie häufig unter Androhung oder Ausübung von körperlicher Gewalt, das Land wieder in Richtung Serbien zu verlassen. Auch in Bulgarien, Mazedonien und Ungarn verüben Polizisten Übergriffe auf Flüchtende. «Wir sind Menschen, betonen die Schutzsuchenden immer wieder verzweifelt.
Wenn manche Geflüchtete hören, dass ich aus Deutschland komme, werden sie wütend und fangen an, mich zu beschimpfen oder auszulachen. Absurd erscheint ihnen wie mir die Vorstellung, dass ich das Privileg habe, unbehelligt mit meinem Fahrrad aus dem reichen Deutschland nach Serbien zu fahren, um eine Woche lang für sie zu kochen. Sie hingegen müssen ihr Leben aufs Spiel setzen, um von einem Land ins nächste zu gelangen. Ich hätte bei der Passlotterie den Hauptgewinn gezogen, einen europäischen, noch dazu einen deutschen Pass bekommen, sagt einer der Flüchtenden verbittert zu mir.
Ich kann reisen, wohin ich will. Noch nie war mir meine Freiheit, waren mir meine Privilegien, die ich mir durch nichts verdient habe, so bewusst wie hier. Noch nie habe ich so deutlich begriffen, was es für das Leben von Menschen bedeuten kann, wenn sie eine Niete in dieser Schicksalslotterie gezogen haben. Mit welcher Berechtigung bin ich hier? Ist es echte Solidarität, meine moralischen Schulden durch eine Woche Unterstützungsarbeit ein wenig zu verringern und den Ort meines Wirkens dann zu verlassen, wenn mir danach ist?
Antworten auf diese Fragen habe ich im Laufe der Woche nicht gefunden. Am Abend meiner letzten Essensausgabe umarme ich auf dem staubigen Parkplatz zum Abschied einen der Männer. Es ist Farid, den ich in den letzten Tagen ins Herz geschlossen habe. »Hoffentlich sehen wir uns das nächste Mal in Deutschland«, sage ich zu ihm und fühle dabei eine Mischung aus Scham, Sorge und Trauer. Ich kann einfach weiterfahren, doch welchen Hindernissen und Gefahren wird er auf seinem weiteren Weg in sein Wunschland Deutschland begegnen? So schwinge ich mich am nächsten Tag auf mein Rad in dem Bewusstsein, dass Europa eine Festung ist. Meine Straßen sind frei. Doch die Menschen, die ich traf, müssen jeden Tag mit Mauern und Zäunen kämpfen, die für mich unsichtbar sind.
Infos:
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.