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Erdogans langer Arm

Yücel Özdemir über Todeslisten des türkischen Geheimdienstes und Regimekritiker, die auch im Exil keine Ruhe haben

  • Yücel Özdemir
  • Lesedauer: 3 Min.

Am Ende des Jahres 2017 bekommt ein Thema in der Türkei besonders viel Aufmerksamkeit: Es geht darum, ob Geheimdienst und Anhänger des Regimes Attentate und Angriffe auf Oppositionelle organisieren. Der HDP-Abgeordnete Garo Paylan hat die Vermutung öffentlich gemacht, der türkische Geheimdienst MIT habe eine Todesliste von im Ausland lebenden Dissidenten erstellt und ein Killerkommando sei aus der Türkei nach Europa geschickt worden. Paylan erklärte dies auf einer Pressekonferenz und forderte dort den Staat auf, dringend Maßnahmen zu ergreifen. Er erinnerte an den vor fast elf Jahren getöteten armenischen Journalisten Hrant Dink sowie an drei kurdische Frauen, die 2013 in Paris ermordet wurden. Nach der Pressekonferenz leitete der Oberstaatsanwalt von Ankara eine Untersuchung ein und beschloss, Paylan anzuhören. Hoffentlich bleibt dies nicht nur eine Formalität.

Die Vorwürfe Paylans haben ein wichtiges Thema auf die Tagesordnung gesetzt. Für Oppositionelle, die in Deutschland leben, handelt es sich dabei nicht nur um Behauptungen, sie kennen Fakten. Im September dieses Jahres wurde beispielsweise an einem Hamburger Gericht der Fall von M. Fatih S. verhandelt, der mit dem MIT in Verbindung steht und eine Verschwörung zur Ermordung kurdischer Politiker geplant hatte.

Yücel Özdemir

Yücel Özdemir wurde 1968 in der türkischen Stadt Varto geboren. Er lebt mit seiner Familie in Köln.

Neben seinem Mathematikstudium an der Universität Istanbul war Özdemir verantwortlicher Redakteur der linken Wochenzeitschrift "Gerçek" (Realität), der Vorläuferin der Tageszeitung "Evrensel". Nach der Veröffentlichung eines geheimen Militärprotokolls, in dem es um die Bespitzelung von Kurden, Aleviten und Linken ging, machte ihm die türkische Justiz den Prozess wegen „Landesverrats“. Er flüchtete im August 1993 nach Deutschland. Seit Jahren schreibt Özdemir für "Evrensel" Berichte und Kolumnen aus Deutschland. Er gehört zu den 50 Journalisten, die beim NSU-Prozess einen ständigen Beobachterplatz erhalten haben und teilt seinen Platz mit "neues deutschland".

Wenn auch das Gericht seine Verbindung zum MIT nicht weiter verfolgte, so ist doch bekannt geworden, dass er offenbar - als Journalist getarnt - in Belgien und Deutschland mit hochrangigen kurdischen Politikern Kontakte geknüpft hatte. Ziel seiner Aktivitäten war der kurdische Politiker Yüksel Koç. Dieser berichtete, dass auf der »Todesliste« von S. neun Personen stünden. Wahrscheinlich handelt es sich dabei um die Liste, von der Paylan gesprochen hat. Und auch im Fall von Muhammad Taha Gergerlioğlu, der bereits 2015 an einem Koblenzer Gericht verhandelt wurde, stellte sich heraus, dass der türkische Staat ernsthafte Maßnahmen gegen Dissidenten in Deutschland geplant hatte. Verschiedenen Berichten zufolge ist Gergerlioğlu, der Erdoğans Berater in dessen Zeit als Ministerpräsident war, ranghoher Offizier des türkischen Geheimdienstes.

Attentats- und Angriffspläne des MIT in Deutschland sind allerdings kein neues Phänomen. Vor fast genau 23 Jahren, am 31. Dezember 1994, waren im rheinland-pfälzischen Germersheim drei Mitglieder der maoistischen TKP/ML bei dem Versuch, eine Kneipe auszurauben von einem 36-jährigen Spezialisten aus der Türkei erschossen worden. Es stellte sich heraus, dass dieser »Mister X« Fehmi T. mit Konsulat und Botschaft in Verbindung gestanden hatte.

Laut der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag gilt Deutschland als Land mit einem starken »Erdoğan-Netzwerk«. Der Kreis erstreckt sich dabei von normalen Konservativen bis zu Imamen, von den Bikern »Osmanen Germania« bis zu offiziellen MIT-Mitarbeitern. Abhängig von den Entwicklungen in der Türkei könnte sich dieser Kreis in Deutschland schneller bewegen und gefährlich werden, als es derzeit den Anschein hat.

Dieser Kommentar ist auch auf Türkisch zu lesen: Türkiye 'suikast cumhuriyeti' mi oluyor?

Deutschland muss dagegen vorgehen. Um hier lebende türkische Oppositionelle zu schützen, darf die Bundesrepublik paramilitärische, geheimdienstliche Organisationen, die aus Ankara gelenkt werden, nicht gewähren lassen. Besonders jetzt. Denn: Aufgrund eines kürzlich in der Türkei erlassenen Notstandsdekrets ist es nicht länger notwendig, offizieller Sicherheitsbeamter zu sein, um im Namen des Staates gegen andere, normale Bürger vorzugehen, wenn diese eines »terroristischen Akts« bezichtigt wurden. Wer dies tut, kann nun straffrei bleiben.

Dieses Dekret ist eindeutig gegen die Opposition in der Türkei gerichtet. Die genannten Entwicklungen, die von Regimekritikern als »Einladung zum Bürgerkrieg« betrachtet werden, bedrohen auch türkische Oppositionelle in der Bundesrepublik.

Aus dem Türkischen von Nelli Tügel

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