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Raus aus dem Filterblasendelirium
Zwei Bücher, eine Erkenntnis: Wir sollten die Welt neu interpretieren
Wenn die Zeit drängt, muss man nachdenken. Im Angesicht großer Erfolge der regressiven Kräfte mag sich der Weltveränderungsdrang beschleunigt haben. Aus den Debatten zur politischen Großwetterlage des abgelaufenen Jahres 2017 lässt sich dennoch ableiten, dass es jetzt gerade aus linker Sicht darauf ankommt, die Welt neu zu interpretieren. Jeder von uns, sagte der Historiker Niall Ferguson kürzlich in einem Interview mit der »Zeit«, wende sich instinktiv jenen Menschen zu, die ihm ähnlich sind. Das sei eine psychologische Konstante.
In den sogenannten sozialen Netzwerken im Internet fördere dieser Hang zur Selbstbestätigung eine Polarisierung von Ansichten. Mit jedem moralisch besetzten Wort in einem Beitrag steigen demnach die Chancen seiner Weiterverbreitung um 20 Prozent. Facebook und Twitter setzen also eine Emotionalisierungsschleife in Gang, in der die Bereitschaft und die Fähigkeit verloren gehen können, sich in völlig anders sozialisierte Menschen hineinzuversetzen.
Dass »Putin-Versteher« ein Schimpfwort ist, weist ebenso in diese Richtung wie der Umstand, dass der Hinweis auf Probleme einer moralisch geleiteten Migrationspolitik dem »emanzipatorischen« Flügel der Linkspartei gleichbedeutend mit einem Plädoyer für ein restriktives Asylrecht erscheint. In »Erwachsenensprache«, dem neuen Buch des Philosophen Robert Pfaller, stehen wiederum Sätze wie diese: »Dass Menschen mit Existenzsorgen über aufgezwungenes ›Gendern‹ ärgerlich werden, ist kein Beleg dafür, dass Gendern fortschrittlich ist oder die Ärgerlichen Faschisten wären. Political correctness ist keine Errungenschaft linker Hegemonie.« Im Filterblasendelirium könnte Pfaller wegen dieser Worte schnell eine Aversion gegen Geschlechtergerechtigkeit unterstellt werden, obwohl sie nicht in den zitierten Sätzen steckt.
Auch im Rest des Buches findet sich keine Passage, in der Pfaller die Identitätspolitik für obsolet erklärt. Er wendet sich vielmehr gegen die modische Behauptung, man dürfe verschiedene Anliegen keinesfalls hierarchisieren: »Die Kämpfe sind nicht allesamt gleichrangig.« Immer mehr Menschen, so Pfaller, leben in Armut und Aussichtslosigkeit. Sprachpolitiken aller Art - vom Gendersternchen über Warnungen vor »erwachsener Sprache« im Vorspann anspruchsvoller Filme bis zu Umbenennungen wie der des Hausmeisters in einen »Facility Manager« - arbeiten zugleich daran, die Brutalisierung der Verhältnisse zu verschleiern.
Dem steht dieser berühmte Satz von Warren Buffett entgegen, den er vor wenigen Jahren einem Journalisten der »New York Times« mitteilte: »Der zentrale Konflikt unserer Zeit ist der Krieg zwischen Arm und Reich.« Das ist eine einfache Wahrheit - hinausposaunt ausgerechnet von dem laut »Bloomberg Billionaires Index« derzeit drittreichsten Menschen der Erde. Unter Linken ist diese Sichtweise nicht mehrheitsfähig. Für eine gegen Buffetts Analyse gerichtete Perspektive steht das kürzlich erschienene Traktat »Jenseits von Interesse und Identität« von Sandro Mezzadra und Mario Neumann. Darin wenden sich die linken Aktivisten gegen jene, die das größte politische Problem der Gegenwart in der wirtschaftlichen Massenverelendung sehen.
Es sei, schreiben sie, »vollkommen offensichtlich, dass wir es erneut mit dem Versuch einer Revitalisierung des Hauptwiderspruchdenkens zu tun haben, der in der Konsequenz zu einer Politik führt, die tatsächlich patriarchale, nationalistische und generationelle Schlagseite hat«. Wer in den gegenwärtigen Auseinandersetzungen vor allem mit der sozialen Frage argumentiere, meinen die beiden Autoren, der wolle die soziale Wirklichkeit »in das Korsett des 20. Jahrhunderts« zwängen: »›Schluss mit der Identitätspolitik, der wahre Klassenkampf und der Hauptwiderspruch sind zurück! Alles andere ist Überbau!‹, scheinen die selbsternannten Wortführer*innen der ›Klasse‹ zu schreien.«
Wer diese »Wortführer*innen« sein sollen und ob außer irgendwelchen AfD-Politikern überhaupt irgendwer die Identitätspolitik komplett abschaffen will, das verraten sie nicht. Stattdessen ist von einer Politikerin die Rede, der das Duo jedes Linkssein abspricht, weil sie Klassenpolitik gegen Antirassismus ausspiele. Nur Eingeweihten erschließt sich, dass Sahra Wagenknecht gemeint sein muss. Mezzadra und Neumann begnügen sich mit Stichworten und Andeutungen. Das nährt den Verdacht, dass sie Applaus unter Gleichgesinnten erlangen und von Andersdenkenden in Ruhe gelassen werden wollen. Außerdem ist es eine raffinierte Immunisierungsstrategie gegen Kritik. Wer Angst hat, Dinge beim Namen zu nennen, muss den Shitstorm nicht fürchten. Er darf aber auch nicht erwarten, ernst genommen zu werden.
Das fiele jenseits der inhaltlichen Mängel auch aufgrund des Schreibstils schwer. Die Flugschrift liest sich überwiegend, als seien deren Autoren im Führerscheinamt eingeschlafen und bei der Bewilligungsstelle für Bewilligungsbescheide wieder aufgewacht. Der fast vollständige Verzicht auf Verben wird durch den kleinen Notvorrat an Adjektiven nicht aufgewogen, der ohnehin nur dazu dient, den Pappkameraden namens »Klassenpolitik« zu deklassieren. Die Linken haben seit Jahrzehnten fast alle ökonomischen Kämpfe verloren und sehr viele kulturelle Schlachten gewonnen. Woran liegt das? Für solche Fragen sind Mezzadra und Neumann nicht zu haben, denn deren Beantwortung müsste in einer Selbstkritik münden.
Robert Pfaller wirft sich dagegen leidenschaftlich in die Debatte. Bisweilen greift er zu steilen Sprüchen. Etwa, wenn er den Einsatz für Minderheiten zum elitären »Kleinkram« herabwürdigt. Auch in der Unterklasse gibt es homosexuelle Männer, die unter der Verachtung ihrer Identität leiden, und auch eine intersexuelle Altenpflegekraft würde sich einen anderen gesellschaftlichen Umgang mit ihrer Besonderheit wünschen. Dass ihr ein höherer Lohn ziemlich sicher wichtiger wäre als die Installation einer dritten Toilettentür am Arbeitsplatz, damit liegt Pfaller jedoch richtig. Er formuliert seine klugen Gedanken so originell, dass einem bei der Lektüre ein Zitat von Karl Kraus einfällt: Er schießt oft über das Ziel hinaus, aber selten daneben.
Pfaller kritisiert die Ignoranz der Linken gegenüber ökonomischen Zusammenhängen ebenso wie die »Defizite der linken Diskussionskultur, die nicht mehr den geringsten Dissens zu ertragen vermag; und schließlich den Bankrott der postmodernen Minderheiten- und Identitätspolitiken«. Die »Kultur des Opferseins« habe das »Zartsprechen« verabsolutiert. Das versperre den Weg für eine neue soziale Idee. Und es helfe dem Neoliberalismus, jene sozialen Mindeststandards abzubauen, deren Verteidigung Mezzadra und Neumann als »Wohlfartsstaats-Populismus« diffamieren. Weil das seit Jahren die vorherrschende linke Haltung ist, muss leider niemand Warren Buffett korrigieren, der in dem Gespräch mit der »New York Times« seinen Spruch vom Klassenkrieg um diese Pointe ergänzte: »Es ist meine Klasse, die der Reichen, die den Krieg gewinnt.«
Robert Pfaller: Erwachsenensprache. Über ihr Verschwinden aus Politik und Kultur. S. Fischer, 256 S., br., 14,99 €.
Sandro Mezzadra/ Mario Neumann: Jenseits von Interesse und Identität. Klasse, Linkspopulismus und das Erbe von 1968. Laika. 72 S., br., 9,80 €.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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