Clowns, Skelette, Masken
»YO. Ich selbst«, die Memoiren von Sergej Eisenstein zeigen nicht nur den Regisseur von »Panzerkreuzer Potjomkin«
Manchmal bedarf es des Anstoßes durch besondere Ereignisse, um sich auf die Schätze im Bücherschrank zu besinnen. So ging es mir jetzt mit der zweibändigen Ausgabe von Sergej Eisensteins Memoiren, die der Berliner Henschelverlag 1984 herausgegeben hat, informativ von Naum Klejman, Walentina Korschunowa und Sergej Jutkewitsch kommentiert - ein »Gigant« der Memoirenliteratur, eine Fundgrube an historischen, künstlerischen und persönlichen Sichtweisen und Einblicken in die Epochenumbrüche des 20. Jahrhunderts und insbesondere in die Weltfilmkunst.
Dieser hat Sergej Eisenstein vor allem mit der Revolutions-Ikone »Panzerkreuzer Potjomkin« (1925) den Stempel aufgedrückt, aber auch mit seinen großen Filmen »Oktober«, »Alexander Newski«, »Iwan Grosny« und besonders mit dem (unvollendeten) Film »Que viva Mexiko!«.
Anstoß, in Eisensteins Memoiren zu schauen und sich darin festzulesen, ist ein Film von Peter Greeneway im Fernsehen gewesen, der den Titel »Eisenstein in Guanajuato« trug, ein ironischer Film voll von südlicher Schwüle und Exotik. Kurz eingeblendet ist darin die Begegnung mit dem Maler Diego Rivera, dessen Bilder für Eisenstein Anlass waren, unbedingt Mexiko sehen zu wollen. Am Ende dann die Szenen aus »Que viva Mexiko!« vom Umzug der Masken am Totentag. Ein Totentanz. Sex als Lust und Züchtigung. Hier taten sich mir Rätsel auf. Deshalb las ich »YO. Ich selbst« wieder und neu.
Die Bemühung lohnte sich. Endlich fand ich, was ich suchte, sozusagen einen »goldenen Schlüssel«: »Mein Atheismus«, schreibt Eisenstein, »ist nicht zu trennen von der Anbetung der sichtbaren Formen des Kultes.« Speist sich das nicht vor allem aus dem, was man vorschnell »die russische Seele« genannt hat und dem man auch bei anderen russischen Filmemachern wie Tarkowski nachspüren kann? Deutlicher wird es im unmittelbar vorangegangenen Text: »Und mir scheint, dass nicht das Blut und der Sand des blutrünstigen Schauspiels der Corrida, nicht die würzige Sinnlichkeit der Tropen, nicht der Asketismus sich geißelnder Mönche, nicht die kosmische Außerzeitlichkeit der aztekischen Pyramiden in mein Bewusstsein ... eingegangen sind, sondern umgekehrt - dass der ganze Komplex der mir eigenen Emotionen ... aus mir herausgewachsen und zu einem riesigen Land geworden sind, mit Bergen, Wäldern, Kathedralen, Menschen und Armeen, Heiligenbildern und der Majolika himmelblauer Kuppeln, den Halsbändern aus goldenen Geldstücken, die die Mädchen von Tehuantepec tragen.«
Eisenstein schreibt einmal, er habe beschlossen, sich »zu Tode zu arbeiten«. Er wurde nur 50 Jahre alt. Ein »Leben im Galopp«. Es speiste sich aus hervorragender Bildung, großer Kenntnis weltweiter Kunst, aus unzähligen Begegnungen mit bedeutenden Menschen (von der Witwe Dostojewskis bis zu Charlie Chaplin), aus Empathie für die Volksmassen und Bildern, Bildern, Bildern ...
Die Memoiren sind aus einem Konvolut von Erinnerungstexten ausgewählt worden. »Yo« ist spanisch »Ich«. Er wolle schreiben, so der Autor, »wie ein Durchschnittsmensch als ein ganz und gar nicht erwarteter Kontrapunkt durch seine große Zeit geht«. Der erste Band widmet sich mehr der Autobiographie, während der zweite vor allem Kunstauffassungen enthält und ein letzter Teil »Profile« von Weggefährten, Freunden und Persönlichkeiten, unter anderem Gorki, Pasternak, Majakowski, Prokofjew.
Das »brave Kind« wird in Riga geboren, wo der autoritäre Vater ganze Straßenzüge von Jugendstilhäusern »mit hohlen Frauenköpfen« baut, das Kind aber auch nach Paris mitnimmt - Gründe dafür, dass sich der Sohn schon früh sowohl von der Architektur ab- als auch dem Theater und ganz neuen Stilmitteln zuwendet. Vielleicht wird so auch Wsewolod Meyerhold später zum bewunderten und kritisierten zweiten »Vater«. Sehr enge Beziehungen bestehen zum »Mamachen«. Blessuren erhält das Kind durch die Scheidung der Eltern. Starke Eindrücke hinterlässt eine Wolgafahrt, vorbei am »schlummernden Nowgorod« mit blendend weißen Kirchen in einer magischen Nacht. Der »Hexenkessel des Bürgerkriegs« hinterlässt »die Wucht der Volksschicksale«.
Eisenstein schreibt assoziativ, immer wieder zieht er Linien vom Erlebten zum Gestalteten und umgekehrt. Spannend zu lesen sind die Kapitel über die Entstehung des »Potjomkin«. Eisenstein unterschlägt nicht, dass viele seiner Filme Auftragswerke waren und es ihm darum ging, trotz »Scheuklappen« die Werke »nach seinem Bilde zu formen«.
Vielleicht haben ihn deshalb Clowns, Skelette und Masken so fasziniert - das Thema des Lebens, des Todes und der Unsterblichkeit. Es muss erwähnt werden, dass zahlreiche Bilder, Zeichnungen, Entwürfe und Szenen seiner Filme die Memoiren vervollständigen, jene Verschmelzung von Leben, Kunst und Kunstauffassung in einem fast ekstatischen Schaffensrausch, dem wir Glanzpunkte der Filmgeschichte verdanken.
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