Schule für alle
Das Bildungsministerium weitete den gemeinsamen Unterricht mit behinderten Kindern aus
Theresa Fietzke sitzt am Rande eines Klassenzimmers der Potsdamer Rosa-Luxemburg-Grundschule und beobachtet den siebenjährigen Tom. Der Erstklässler löst wie alle seine Mitschüler konzentriert seine Aufgaben, doch er kommt nicht an sein Federmäppchen heran. Fietzke schiebt ihn mit seinem Therapiestuhl näher an den Tisch heran.
»Im Rollstuhl ist er ziemlich wendig, aber den Therapiestuhl kann man nur schieben«, erläutert die Einzelfallhelferin, die Tom täglich im Alltag begleitet. Er ist mit einem offenen Rücken geboren und eines von 25 Kindern mit Handicap oder Förderbedarf, die an der Regelschule unterrichtet werden.
Die Rosa-Luxemburg-Schule ist eine von 75 Grundschulen in Brandenburg, die bereits seit fünf Jahren Inklusion betreiben, die inzwischen Gemeinsames Lernen von Kindern mit und ohne Förderbedarf heißt. Das Pilotprojekt wurde in diesem Schuljahr auch auf Ober- und Gesamtschulen und damit auf insgesamt 129 Schulen ausgeweitet.
Dafür stellt das Land den Schulen in diesem und im kommenden Schuljahr zusätzlich bis zu 432 Sonderpädagogen als Lehrkräfte zur Verfügung. Für das zusätzliche Personal sind in diesem Jahr 5,6 Millionen Euro, im nächsten Jahr bereits 18,3 Millionen Euro geplant. In der Rosa-Luxemburg-Schule mit ihren insgesamt rund 500 Schülern seien vier Sonderpädagogen und zwei pädagogische Unterrichtshelfer im Einsatz, berichtet Schulleiterin Sabine Hummel.
»In den meisten Fällen geht es bei den Kindern um eine Unterstützung in der emotionalen und sozialen Entwicklung oder der Sprache«, sagt Hummel. Die Sonderpädagogen erstellen Förderpläne für die betroffenen Schüler und stimmen sie mit den anderen Fachlehrern ab. »Wir haben jetzt viel mehr Kommunikation im Kollegium«, sagt die Schulleiterin.
In den meisten Fällen schafften die Schüler den Übergang in eine weiterführende Schule. »Dafür wird dann schon ein halbes Jahr zuvor eine Ober- oder Gesamtschule ausgesucht«, berichtet Hummel. In Einzelfällen stoße die Schule mit ihren Möglichkeiten aber auch an Grenzen. »Wir hatten mal zwei Jahre lang ein autistisches Kind, das sich nicht sozial integrieren konnte«, erzählt sie. »Das Kind ist dann auf eine Förderschule gekommen.«
Andere Schüler mit Förderbedarf konnten trotz des Wunsches der Eltern, etwa aus Platzmangel oder weil sie nicht aus dem Einzugsbereich der Schule kamen, nicht aufgenommen werden. »Wir bekommen immer mehr Anfragen, weil wir in dem Bereich spezialisiert sind - aber ich möchte nicht, dass wir eine neue Art von Förderschule werden«, betont Hummel. »Ich möchte die Heterogenität einer ganz normalen Regelschule bewahren.«
Immer mehr Eltern wünschten sich, dass ihre Kinder mit einem Förderbedarf eine normale Regelschule besuchen und einen anerkannten Schulabschluss machen können, sagt der Sprecher des Bildungsministeriums, Ralph Kotsch. »Diesem Elternwunsch tragen wir Rechnung.« Entsprechend sei der Anteil der Schüler, die eine Förderschule besuchen, zwischen den Schuljahren 2005/2006 und 2015/2016 von 6,1 Prozent auf 4,1 Prozent gesunken.
Aktuell haben etwa 16 000 der rund 289 000 Schüler in Brandenburg einen festgestellten sonderpädagogischen Förderbedarf. Etwa 11 000 von ihnen haben Defizite im Lernen, in der sozialen und emotionalen Entwicklung sowie in der Sprache. Ziel ist es, diese Kinder in einen normalen Schulalltag zu integrieren und beim Lernen zu unterstützen.
In Toms Klasse ist noch ein weiteres körperbehindertes Kind. Merle ist schwerhörig. Klassenlehrerin Anny Reichmann wiederholt für sie Fragen der Mitschüler, damit Merle auch von ihren Lippen lesen kann. »So brauche ich nicht extra ein Sprechgerät - nur leider fallen Merles Hörgeräte immer mal wieder 'raus«, sagt Reichmann. Eifersucht auf die Sonderbehandlung für Tom und Merle komme in der Klasse nicht auf, berichtet sie. »So erleben die Kinder das nicht: Die Einzelfallhelferin kümmert sich nicht nur um Tom, sondern zeigt, dass sie für alle da ist.« dpa
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