Sehnsucht nach einer besseren Welt

Die Compagnie »Cullbergbaletten« zeigt Jefta van Dinthers »Protagonist« im HAU

  • Volkmar Draeger
  • Lesedauer: 3 Min.

Spätestens seit dem Duo »Dark Field Analysis« über den letzten »Tanz im August« in Berlin zählt Jefta van Dinther, halb Niederländer, halb Däne, zu den Choreografen, die tief ins menschliche Innere loten. Das erkannte man auch bei den »Cullbergbaletten«, seit mehr als 50 Jahren Schwedens führender Compagnie für zeitgenössischen Tanz. Dort hatte im Juli 2017 van Dinthers neues, zweites Stück für die Stockholmer Truppe Premiere.

Mit nur geringer Verspätung erreicht es nun das Hebbel am Ufer und fordert die Zuschauer. Denn einfach macht es ihnen der Choreograf nicht. »Protagonist« klingt nach klaren Verhältnissen auf der Bühne, zwischen Hauptakteur und Masse. Genau das jedoch hat van Dinther nicht im Sinn. So wie die Welt keine eindeutigen Verhältnisse und Zuordnungen kennt, operiert auch seine Kunst eher im Ungefähren, Assoziativen. In »Protagonist« tun sich drei Genres eng zusammen: Bewegung, Klang und Licht.

Ein Dutzend Scheinwerfer erleuchten pinkfarben ein Gerüst aus Metallstangen. Aus dem Off säuselt ein Mann vom Gefühl, etwas verändern zu müssen. Da schalten sich in sportiver Kleidung die 15 Tänzer ein. Wie ein Gesamtkörper bewegen sie sich, oft diffus, bisweilen ruppig, mit gestischen Dialogen. Fahrig ist das und voller Verzweiflung, ballt sich und wogt wie ein Feld menschlicher Ähren. Manchmal wird ein Akteur gehoben, als sei er der Hoffnungsträger, dann sinkt er jedoch zurück in eine hilflose Menge ohne Orientierung. Kontakte sind selten und nur von kurzer Dauer, Stürze folgen, Röte glimmt bedrohlich auf; oder Streifen von Neonlicht teilen den Boden. »What did I do«, fragt Elias, ein 21-jähriger Sänger aus Schweden, den van Dinther entdeckt hat. Die Tänzer knien und schlagen um sich, als verteidigten sie sich gegen eine Gefahr, die eher in ihnen selbst steckt. »Falling«, klagt und schluchzt Elias so lange, bis die Tänzer als sein Chorus einstimmen, eine beeindruckende Szene. Hoffnung keimt auf.

Die verbreitet auch Elias: »Let’s start a revolution«, so lautet sein Fanal, die Lethargie zu überwinden. Es bündelt nach einem Stillstand, in dem man um den Fortgang des Stücks fürchtet, das gemeinsame Wollen. Frontal stehen die Tänzer, sinken ganz langsam in gekrümmte Haltungen, tapsen aus dieser Formation, als eroberte sich staunend eine menschliche Urform ihr neues Umfeld. Unschuldig legen sie ihre Kleidung ab, schaukeln an dem Gerüst und wirken keusch wie die Menschlein auf Hieronymus Boschs um 1500 geschaffenem Tafelbild »Garten der Lüste«. Um Lüste indes geht es hier weniger, mehr um Größeres: den Neubeginn unserer Spezies. Allmählich streifen die Tänzer das animalische Gehabe ab und recken sich in neuem Bewusstwerden. Gelbes Licht wärmt da die Nackten und bezieht blendend die Zuschauer ein, bis ein Black den Prozess beendet. Die Sehnsucht nach einer besseren Welt hat ihre szenische Entsprechung gefunden.

Es ist nicht Tanz im engeren Sinn, mit dem van Dinther hier aufwartet. Wohl aber ein zwar eng begrenztes, oft sprödes und dennoch so zielsicher wie konsequent eingesetztes Vokabular an physischen Ausbrüchen, die starkes Missbehagen an dieser Welt artikulieren. Wieder verschmilzt der Regisseur die Künste zu gemeinsamer Aussage, und wieder gelingt es ihm, Nacktheit als etwas Selbstverständliches einzubringen. Wer ist nun aber der Protagonist? Kein Individuum, sondern die gesamte Menschheit in ihrem Streben nach Veränderung hin zu einer höheren Stufe.

Bis 13.1., HAU1, Stresemannstraße 29, Kreuzberg, www.hebbel-am-ufer.de

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.