Schweiz ist Hoffnung

Was Gysi lehrt

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 3 Min.

Nicht alle Politiker gehören ins Feuilleton. Verbot für Farblosigkeit! Wichtig deren Rede, es sei was faul im Staate Dänemark? Ach, ohne Hamlet ein Schmarren. Politiker und Shakespeare? In »Was ihr wollt« trägt einer den trefflichsten Namen: Bleichenwang. Mehr Shakespeare kann man bei Politikern nicht verlangen. Schiller auch nicht. Schillern schon. Gysi schillert.

Militanz ist ihm fremd - das ist wahrer linker Mut in Zeiten der Verschärfungen. Gregor Gysi ist mit vielen Fasern Partei und wirkte doch von Beginn an auch, als habe er Partei als Erlebnis lang schon hinter sich. Der Dialektiker als Artist, und just das Linke als Mitte: von allen Seiten Lehren annehmen. Denn den Auftrag, eine Gesellschaft zu verändern, teilen sich in der Demokratie viele Geisteswelten. Die bürgerliche Ordnung als ein »Entdeckungsverfahren« (Friedrich von Hayek) für vorteilhafte Investitionen. Was nun vorteilhaft sei - dies allerdings ist gesellschaftlich hart zu diskutieren. Da bleibt der Linke Gysi stets sehr kenntlich.

Dichter Stephan Hermlin reizte in der DDR mit der Selbstkennung, er sei ein »spätbürgerlicher Schriftsteller«. Wenn man Gysis europaweit verzweigten Stammbaum zwischen Adel und Kommunisten besieht, so findet man im Gebaren des Nachfahren ebenfalls eine Feier zeitresistenter Spurenelemente. Weil Leben vor allem Weitergabe bleibt - jede Biografie (wie jeder Tag) besteht aus mehr Gestern als Heute. Nach dem jeweils Neuen frag die Mikroskope. Sage keiner, die Melancholie der bürgerlichen, gar monarchischen Stilisten gehöre nicht zum Bauplan einer suchenden Menschheit. Linkssein war für Gysi deshalb nie ein Mittel, sich mit Rauschzuständen ideologischer Feindlichkeit zu versorgen.

Dass ihn eine Berliner Ausstellung zur Oktoberrevolution mit der Hoffnung zitierte, es möge das nächste Mal besser klappen - es war ein Lapsus des Leichtgeistes, dem Pointe vor Präzision geht. Gysi ist der Prototyp des Politikers nach den Revolutionen, mehr noch: statt der Revolutionen. Wissend auch: Der Mensch will nicht dauernd in Richtung Zukunft gezogen, erzogen werden, er »will ohne Aufschub und Ferne in sein volles Leben« (Ernst Bloch).

Gysi weiß freilich, was Weltveränderung unmittelbar sein kann: sich die Bedingungen der eigenen Existenz mit Lust, List und gewiefter Lässigkeit stets so herzurichten, dass man in ihr sein kann, wie man ist. Wie er ist? Er zitiert gern ironisch einen französischen Kapitalisten, der oft das Haus von Gysis Eltern besuchte. Engster Sympathisant der KP Frankreichs. Was er wohl mache, wenn die sozialistische Revolution tatsächlich siegte? Der Millionenschwere antwortete: »Dann gehe ich sofort in die Schweiz und kämpfe dort weiter!«

Gregor Dampf in vielen Gassen, die er sich zu Alleen formt. Überall zu Hause, nirgends daheim. Gysi ist populär. Wer populär ist, lebt in Resonanzen, aber nahezu ohne Chance, den Kern jeder öffentlichen Existenz zu offenbaren: Einsamkeit. »Jeder schlägt seine Schlacht allein.« Ist nicht Shakespeare, ist nicht Bleichenwang, obwohl diese Wahrheit erblassen lässt. Ist Schiller.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.