Dramatischer Warnschuss

Der Videobeweis verhilft den deutschen Handballern zum Remis. Eine Steigerung ist nötig

  • Michael Wilkening
  • Lesedauer: 3 Min.

Erst desolat, dann zurückgekämpft und am Ende glücklich: Das 25:25 der deutschen Handballer gegen Slowenien war dramatisch. Jetzt soll Abwehrchef Finn Lemke die Stabilität wiederherstellen.

Von Michael Wilkening, Zagreb

In der Fußball-Bundesliga ist der Weg von der Anwendung des Videobeweises bis hin zu wilden Verschwörungstheorien nicht weit. Das Phänomen ist seit dieser Saison beinahe wöchentlich zu beobachten - und weshalb sollte es bei einer Handball-Europameisterschaft anders sein? Die Delegation Sloweniens stellte am Dienstag kurzfristig sogar die Drohung in den Raum, das Turnier vorzeitig zu beenden, weil ihr Protest gegen die Wertung des 25:25-Unentschiedens vom Vorabend gegen Deutschland abgewiesen worden war. Natürlich werden die Slowenen zu ihrem letzten Vorrundenmatch gegen Montenegro antreten, doch die Aufgeregtheit des WM-Dritten von 2017 offenbarte die Verrücktheit der Schlusssekunden eines denkwürdigen Duells mit den Deutschen.

Was war passiert? Die Slowenen hatten sieben Sekunden vor dem Ende zum 25:24 getroffen und hätten die Partie gewonnen, wenn Blaz Blagotinsek den von Paul Drux ausgeführten Anwurf von der Mittellinie nicht regelwidrig innerhalb des Mittelkreises abgeblockt hätte. Die Konsequenz einer noch recht neuen Regel war eindeutig: Siebenmeter. Strittig war nur, ob Drux den Ball vor oder nach der Schlusssirene geworfen hatte.

Bob Hanning zeigte Verständnis für die Emotionalität der Slowenen. »Wir wären auch alle in heller Aufregung, wäre es andersherum gekommen«, sagte der Vizepräsident des Deutschen Handballbundes (DHB). Hanning hatte die Ablehnung des Protestes durch den europäischen Verband EHF erwartet, aber den Versuch des Kontrahenten konnte er nachvollziehen. Dass die Slowenen wenig Aussicht auf Erfolg hatten lag nicht an der strittigen, letztlich aber klaren Situation, sondern mehr an der Tatsache, dass die Begegnung bei einem erfolgreichen Protest hätte wiederholt werden müssen. In dem engen Terminkorsett einer EM ist das schlicht nicht durchführbar. »Die Entscheidung der EHF ist folgerichtig, wir hätten es aber auch auf ein Wiederholungsspiel ankommen lassen«, sagte Hanning.

Seit der WM 2015 in Katar, als der Videobeweis erstmals auf Testbasis bei einem großen Handballturnier eingesetzt wurde, können sich Schiedsrichter strittige Szenen noch einmal ansehen. Zu einer derart dramatischen Siebenmetersituation hatte er aber bislang nie geführt.

Die Gemengelage war daher auch am Tag nach dem wahnwitzigen Ende des Slowenien-Spiels außergewöhnlich, zudem hatte Bundestrainer Christian Prokop noch in der Nacht Abwehrchef Finn Lemke nachnominiert, der Bastian Roschek ersetzen soll. So rückte in den Hintergrund, dass im finalen Gruppenspiel an diesem Mittwochabend gegen Mazedonien für die Deutschen trotz des vorzeitigen Erreichens der Hauptrunde noch viel auf dem Spiel steht. Nach dem Remis gegen Slowenien nimmt Deutschland einen Minuspunkt mit in die zweite Runde. Gibt es gegen die Mazedonier einen weiteren Rückschlag, wird das ambitionierte Ziel Titelverteidigung schon vor der zweiten Turnierphase unwahrscheinlich.

»Es wird darum gehen, die kämpferische und emotionale Leistung der zweiten Halbzeit gegen Slowenien dieses Mal über 60 Minuten zu zeigen«, forderte Prokop. Der Trainer weiß, dass seiner Mannschaft - und auch ihm selbst - ein zweiter, in Teilen desolater Auftritt nicht unterlaufen darf. Der 39-Jährige baut darauf, dass seine Spieler die richtigen Lehren aus der schwachen ersten Halbzeit ziehen, als sie bereits 9:15 zurückgelegen hatten. »Das war ein kleiner Warnschuss. Wir wissen jetzt, dass uns hier nichts geschenkt wird«, sagte Tobias Reichmann. Der Rechtsaußen hatte mit dem Siebenmetertreffer nach Ablauf der Spielzeit das Remis nervenstark gesichert. Nun wird es Zeit, die Lernfähigkeit unter Beweis zu stellen.

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