Bundeswehr führt Kalten Krieg fort

Die LINKE sagt: Militärhistoriker vernachlässigen Verbrechen der Wehrmacht im Osten

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 4 Min.

Zum Holocaust haben die Militärhistoriker schon seit zehn Jahren keine eigenständige Schrift mehr publiziert. Außerdem kooperiert ihr Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw) zwar mit der Landesverteidigungsakademie des österreichischen Bundesheeres, dem Service historique de la Défense der französischen Armee und mit dem kanadischen Centre for Military Security and Strategic Studies. Eine vergleichbare Zusammenarbeit mit derartigen Institutionen in Polen, Russland oder Israel, die sich beim Thema Kriegsverbrechen hinter der Ostfront anbieten würde, gibt es jedoch nicht.

An mangelnden Kapazitäten kann es eigentlich nicht liegen. Immerhin beschäftigt das Zentrum mit Sitz in der Potsdamer Villa Ingenheim 90 Wissenschaftler, darunter 44 Militärhistoriker. Von diesen befassen sich allerdings nur sechs mit dem Zweiten Weltkrieg, und dabei zwei speziell mit dem Geschehen in Osteuropa. Demgegenüber konnte in den vergangenen zwei Jahren dank einer entsprechenden Finanzierung qualifiziertes Personal eingestellt werden, das sich insbesondere durch Forschungen zur Westfront hervorgetan hat.

Chronik des Forschungsamtes
  • 1957 wurde in Langenau bei Ulm eine Militärgeschichtliche Forschungsstelle eingerichtet.
  • 1958 erfolgten die Umbenennung in Militärgeschichtliches Forschungsamt und der Umzug nach Freiburg im Breisgau.
  • 1969 übernahm die Bundeswehr das Historische Museum Rastatt, das von 1969 bis 1994 als Wehrgeschichtliches Museum dem Forschungsamt unterstellt war.
  • 1984 eröffnete das Forschungsamt zum 40. Jahrestag des Attentats auf Hitler durch Oberst Claus Graf Schenk von Stauffenberg die bis heute benutzte Wanderausstellung »Aufstand des Gewissens«.
  • 1990 wurde das ehemalige Militärgeschichtliche Institut der DDR dem Forschungsamt angegliedert. Das Institut befand sich in Potsdam und diente nun als Außenstelle.
  • 1992 kündigte Generalinspekteur Klaus Naumann die Verlegung des kompletten Forschungsamtes nach Potsdam an. Dort nahm es seinen Sitz an der Zeppelinstraße.
  • 1996 bis 1998 wurde der Dienstsitz, die Villa Ingenheim, umfassend renoviert.
  • 2013 fusionierte das Militärgeschichtliche Forschungsamt mit dem Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr. Daraus entstand das heutige Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften. Eine Bibliothek gehört dazu.
  • Kommandeur des Zentrums ist seit 2017 Kapitän zur See Jörg Hillmann. Die Belegschaft besteht aus Militärs und Zivilisten. af

Dies alles ergibt sich aus einer Anfrage der Linksfraktion im Bundestag, und aus den Antworten von Verteidigungsstaatssekretär Ralf Brauksiepe (CDU).

»Die Ignoranz gegenüber der Erforschung des Nationalsozialismus und insbesondere des Holocaust am ZMSBw ist nicht länger hinnehmbar«, findet die Abgeordnete Brigitte Freihold (LINKE). »Das bisherige Forschungs- und Bildungsangebot ist nicht auf die notwendigen Lerninhalte von Soldaten und Offizieren abgestimmt, die - wie immer wieder neue Skandale belegen - ein gravierendes Defizit in der Aufklärung über die deutschen Gewaltverbrechen aufweisen.« Die Bildungsexpertin kritisiert: »Das ZMSBw schwimmt im eigenen Saft, indem es sich von Kalter-Kriegs-Mentalität in der Forschung nicht lösen will.« Jedoch dürfte sich angesichts der gegenwärtigen Gefahren für ein friedliches und demokratisches Europa die Forschungstätigkeit »nicht im Zelebrieren der Bundeswehrgeschichte von 1949 bis 1989 erschöpfen«, meint Freihold. Sie fragt: »Wie soll sich die Bundeswehr von den NS-Verbrechen abgrenzen, wenn die Soldaten nichts darüber wissen?«

Die Abgeordnete Nicole Gohlke (LINKE) ergänzt, dass die Wissenschaft gerade in der heutigen Zeit zunehmender militärischer Spannungen einen Beitrag leisten sollte, »das Entstehen von Kriegen zu analysieren«. Die Bundeswehr sei besonders gefragt, »die historischen Erfahrungen zweier Weltkriege aufzuarbeiten und die Rolle deutscher Kampfeinheiten zu diskutieren«. Es habe 1945 leider keine Stunde null gegeben. Die Geschichte der deutschen Streitkräfte beginne nicht erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Es müsse personell und inhaltlich gegengesteuert werden, sagt Gohlke.

Nach Ansicht der Linksfraktion ist es von enormer Bedeutung, den Holocaust, den Vernichtungskrieg im Osten und die Rolle der Wehrmacht kritisch aufzuarbeiten - »namentlich auch deren Nachwirkungen und Kontinuitäten in der Bundesrepublik«. Dies auch vor dem Hintergrund der Debatte um Leitbilder und Traditionen der Bundeswehr.

Nun ist es nicht so, dass in der Villa Ingenheim in dieser Richtung überhaupt nichts geschieht. Von 183 Publikationen, die seit 2008 von den Militärhistorikern selbst geschrieben oder zumindest herausgegeben worden sind, befassen sich 79 mit der Zeit nach 1945, allein 56 davon mit der Bundeswehr und 23 mit der Nationalen Volksarmee (NVA), aber immerhin auch 36 mit dem Zweiten Weltkrieg. Zwar gehöre die Beschäftigung mit paramilitärischen Organisationen, wie die SS eine gewesen ist, »prinzipiell« nicht zum Forschungsauftrag des Zentrums, verrät Staatssekretär Brauksiepe. Immerhin seien aber einzelne Publikationen zur Waffen-SS erschienen, so 2014 von Jens Westemeier: »Himmlers Krieger: Joachim Peiper und die Waffen-SS in Krieg und Nachkriegszeit«. Außerdem entstehe gerade eine Dissertation: »Waffen-SS im Fronteinsatz. Kriegführung und militärischer Wert der SS-Panzerdivisionen«.

Brauksiepe beteuert, die Themen Kommissarbefehl (die Anweisung lautete, gefangene Politoffiziere der Roten Armee sofort zu erschießen), Besatzung in Osteuropa, Wehrmacht im Holocaust und Hungerpolitik gegen die Sowjetunion und sowjetische Kriegsgefangene »finden in den Medien der historischen Bildung für die Streitkräfte, die im ZMSBw erarbeitet werden, ihre angemessene Darstellung«. Auch die Wehrmachtsausstellungen von 1995 und 2001 - sie belegten die Beteiligung der angeblich sauber gebliebenen Soldaten an Kriegsverbrechen der SS- und Polizeieinheiten - würden dabei nicht links liegen gelassen. Konkret handelt es sich bei den Medien um Lehrbücher, andere Unterrichtsmaterialien und die vom Zentrum vierteljährlich veröffentlichte Zeitschrift »Militärgeschichte«. Der Holocaust und die deutschen Kriegsverbrechen im Osten werden Brauksiepe zufolge bei allen relevanten Forschungsprojekten zum Zweiten Weltkrieg und auch bei der Bildungsarbeit berücksichtigt. Darüber hinaus gebe es dazu jedoch derzeit keine speziellen Forschungs- und Bildungsangebote.

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