Exakt, treffend und unterhaltsam

»Das große Lexikon der DEFA-Spielfilme« in erweiterter Neuausgabe

  • Günter Agde
  • Lesedauer: 3 Min.

Wozu braucht man in Zeiten allseitig und rasend schnell verfügbaren Wissens via Internet noch ein Lexikon? Zudem eins in zwei dicken Bänden mit insgesamt 1200 Seiten und Hunderten Fotos und einem stolzen Preis?

Die Antwort auf diese Frage muss offenbleiben, solange es noch solche mutigen Versuche gibt, wie sie der Berliner Filmjournalist Frank-Burghardt Habel und sein Berliner Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf wagen: alle Spielfilm-Produktionen aus 47 DEFA-Jahren sämtlicher Genres lexikalisch vorzustellen. Tatsächlich listet Habel wirklich alle Spielfilme auf, die die DDR-Monopol-Filmproduktionsfirma DEFA herausgebracht hat, zusätzlich noch unvollendete und verbotene sowie alle Kinderfilme. Ein inhaltlich beachtliches, umfängliches Kompendium, das einmal mehr offenbart, wie sehr der ostdeutsche Part der deutschen Filmproduktion nach 1945 in Ästhetik, Kunstleistung einschließlich Schauspielkunst und moderner Filmsprache zur deutschen Kultur beigetragen hat.

Vergleicht man die Film-Einträge auf Wikipedia oder im seriösen Filmportal mit den Habel-Annotationen, wird der Wert des Lexikons kenntlich. Die exakten Stabangaben zu allen Filmen, die von anderswo in das Lexikon importiert wurden, bilden das solide Fundament jeder Filmdarstellung. Die sehr treffenden Fabelbeschreibungen der Filme hat Habel von der Filmjournalistin Renate Biehl übernommen.

Der erste, groß angelegte Versuch, die DEFA-Spielfilm-Entwicklung darzustellen, der Sammelband »Das zweite Leben der Filmstadt Babelsberg«, wurde 1994 vom Filmmuseum Potsdam herausgegeben, war durchgeschrieben und chronologisch strukturiert. Diese Arbeit ist bis heute gültig, auch wenn manche Wertung im Einzelnen durch neue Forschungen präzisiert werden muss. Habel hat - sozusagen mit historischem Sicherheitsabstand - neue Erkenntnisse zur DEFA (auch aus dem Ausland) weitgehend berücksichtigt.

Habel sprengt die Chronologie auf und ordnet die Filmtitel streng lexikalisch nach dem Alphabet. Aber um die Strenge eines nüchternen Lexikons aufzubrechen (wohl auch, um es lockerer und unterhaltsamer zu machen), erfindet er einige Rubriken, die er selbst verfasst hat und die er konsequent jedem Film anfügt. Unter »Zum Film« notiert er zum Beispiel Hintergründe von Produktionen und vereinzelte Studio-Interna. So teilt er bei »Das Beil von Wandsbek« (1951, Regie: Falk Harnack, nach dem Roman von Arnold Zweig), einem frühen Beispiel einer differenzierten Faschismus-Auseinandersetzung, die üblen Querelen um den Kinoeinsatz mit: Doktrinäre SED-Funktionäre setzten ein einseitiges Faschismus-Bild durch. Der Film wurde zurückgezogen, verstümmelt und erst sehr viel später rekonstruiert. Derart sachlich-lakonisch referiert Habel auch über die einzelnen »Kaninchen«-Filme nach dem Kahlschlag-Plenum 1965 und andere Repressionsfälle.

Für seine Rubrik »Echo« wählt er subjektive, wenngleich treffende Auszüge aus Filmkritiken aus, auch aus dem Ausland, um den zeitgenössischen Wertungen nahezukommen. Diese Rezensionssplitter ergänzen trefflich die Fabelerzählungen der Filme.

Für »Nebenbei« übersieht er keinen Cameo-Auftritt. Ansonsten sammelt er Episödchen à la »… sind einige Prominente zu sehen …« wie bei »Anton der Zauberer« (1978, Regie: Günter Reisch). Beim Indianerfilm »Apachen« (1973, Regie: Gottfried Kolditz) teilt er mit, dass mehrere Hundert Kostüme neuangefertigt und 100 Perücken geknüpft werden mussten. So auch in seiner Rubrik »Zum Film«. Das sind Bagatellen und Schnickschnack, aber natürlich vergnüglich zu lesen, zumal sie in lockerer Prosa und lax formuliert sind. Gewiss, bissel Klatsch und eine Prise Mainstream können sein, aber nicht um jeden Preis.

Im Durchschnitt zwei Fotos pro Film sind ein großer Gewinn, weil sie die optische Erinnerung an die Filme wachhalten oder neugierig machen (und das gelungene Layout vervollständigen).

Das Dilemma ist auch hier nicht gültig aufzulösen: Noch die treffendste literarische Beschreibung eines Films kann nicht ersetzen, ihn im Kino anzusehen. (Die DEFA-Stiftung und das Filmlizenzhandelsunternehmen Icestorm betreiben die Digitalisierung, sodass man die Filme wenigstens als DVD parat hat.)

Das Lexikon kann dazu beitragen, die Filme wieder mal im Kino ansehen zu wollen. Und ein Wunsch bleibt: Wegen der historischen Gerechtigkeit sollte bald ein ähnlich sorgfältig und ambitioniert gemachtes Werk zum DEFA-Dokumentarfilm erarbeitet werden.

F.-B. Habel: Das große Lexikon der DEFA-Spielfilme. Erweiterte Neuausgabe in zwei Bänden. Schwarzkopf & Schwarzkopf, 1152 S., rund 1000 Abbildungen, geb., 99,99 €.

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