• Kultur
  • »Unterleuten« von Juli Zeh

Das Bürgertum vergisst seine Manieren

Heiße Schlacht am kalten Abend: »Unterleuten« am Hans-Otto-Theater Potsdam, Regie: Tobias Wellemeyer

  • Christian Baron
  • Lesedauer: 3 Min.

Schon auf dem Weg zum Hans-Otto-Theater Potsdam sind einem die Schneeregenflocken im Gesicht zu einer eiskalten Matschbrühe geschmolzen. Beim Blick aus dem Fenster tanzen sie drei Stunden später noch immer durch die Luft, diese elenden Boten des nordischen Winters. An der Garderobe versammeln sich die Gutbürger, noch bevor der Schlussapplaus verklungen ist. Die feinen Leute schieben und grimassieren und motzen sich sehnsuchtsvoll ihren teuren Mänteln entgegen. Vorn lüpft der freudestrahlend als Erster dem großen Saal entflohene Mann mit dem schneeweißen Schnurrbart den Hut und dankt damit der routiniert lächelnden Mitarbeiterin, die ihm den Umhang in geübter Schnelligkeit überreicht hat.

Während der wohlbehütete Herr von dannen zieht, verdickt sich an der Theke die Menschentraube. Wer das Glück hat, nicht mittenmang im Gewühl zu klemmen, der befiehlt noch eben der weiblichen Begleitung, sich anzustellen, ehe er zum Rand des Geschehens weicht. Dort starren erstaunlich viele Männer gesetzteren Alters auf Smartphones. Sie rücken ihre randlosen Brillen zurecht und streichen so behutsam über die Displays, als handele es sich um seit Jahrhunderten im Familienbesitz befindliche Taschenuhren.

Derweil geht es an der Klamottenausgabe allmählich handfester zu. Vier Bedienstete ackern im Akkord: Marke her, Jacke hin, Person weg. Natürlich bleibt das unterschiedliche Arbeitstempo des offensichtlich mit unterschiedlicher Berufserfahrung zum Dienst angetretenen Servicepersonals bei den Kulturfreunden nicht unbemerkt. Ein Mann in der Pole-Position wartet mit aufgerissenen Augen auf sein Anziehzeugs, während nebenan ein Premierengast nach dem anderen abgefertigt wird. »Ich hab heute Abend noch andere Termine«, murmelt er mehrmals, ehe er zur nächsten Eskalationsstufe übergeht und der verzweifelt die Kleiderhaken durchsuchenden Theaterangestellten zuruft: »Soll ich die Nacht hier verbringen?«

Dahinter: zustimmendes Nicken, so weit das im Rudel eingequetschte Auge blicken kann. Da endlich erhält der Meckerpott sein Sakko. Weil er nicht allzu rasch aus dem Getümmel kommt, rammt er einer Frau mit porzellanbleichem Puppengesicht den Ellbogen in die Seite. »Na, hörnse mal!«, blökt sie ihm entgegen. Fürs Echauffieren bleibt jedoch keine Zeit, von hinten drückt die Bourgeoisie.

Als auch die zweite Bedienstete langsamer wird, droht der unter Kulturpessimisten als Metapher beliebte Firnis der Zivilisation sich wieder einmal als dünn herauszustellen. Eine Frau mit langen und glatten Haaren, die in einem Wickelkleid steckt, klatscht ihre Marke auf die Ablage. Mit dem darauf vernehmbaren Klackern ihrer Fingernägel und einem ausladenden Hinternwackeln demonstriert sie die Ungeduld eines Windhundes, der dringend Auslauf braucht.

Die im Durcheinander wahrnehmbaren Worte nehmen an inhaltlicher Schärfe zu: »Jedes Mal dasselbe!«, »Könnt ihr mal fähige Leute einstellen!?«, »Ich dreh durch!!«. Der Aufstand der Anstehenden steht bevor. Gerade noch rechtzeitig läuft die Ausgabe wieder schneller, ohne dass erkennbar wird, warum.

Der dramatische Höhepunkt ist überstanden. Jetzt zeigt sich zweifelsfrei, wen es stante pede zum SUV in die Tiefgarage zieht und wer dank der Anzeigetafel im Foyer weiß, dass er noch lange auf die wegen eines Notarzteinsatzes verspätete Straßenbahn warten muss. Die meisten der wenigen Menschen jüngeren Alters haben den Autofahrern das Erstzutrittsrecht zur Garderobe gewährt. Soll noch mal einer sagen, die Jugend von heute sei wegen digitalen Dauerdaddelns unausgeglichen und doof.

Zuvor hat sich nebenan auf der großen Bühne bereits ein ähnliches, aber deutlich weniger berichtenswertes Schauspiel zugetragen. »Unterleuten« erzählt eine Geschichte aus der brandenburgischen Provinz, in der das Bürgertum seine Manieren vergisst. Zweierlei ist an dieser Stelle von der Aufführung mitzuteilen. Erstens: Die Theaterfassung des Romans hat Juli Zeh nicht den in kundigen Kreisen erworbenen Ruf als schlechteste Bestsellerautorin des deutschsprachigen Literaturbetriebs gekostet. Und zweitens: Der Intendant Tobias Wellemeyer sollte dem Regisseur Tobias Wellemeyer das Inszenieren verbieten.

Nächste Vorstellungen: 27. und 28. Januar

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