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- Kirche auch für Lesben und Schwule
Alle unter einem Dach
Eine evangelikale Kirche in Rio de Janeiro trotzt der traditionellen Doktrin und bietet Lesben und Schwulen ein christliches Gotteshaus
Ein ehemaliger Kinosaal dient als Gotteshaus. Etwas über die Hälfte der rund 400 Plätze sind besetzt, als in der Igreja Cristã Contemporânea in Rio de Janeiro an einem Samstagabend der Gottesdienst beginnt. Ein junger Schlagzeuger trommelt mit geschlossenen Augen und gibt den Rhythmus vor. Mit lauter Stimme singt eine Pastorin ein Loblied auf Jesus Christus. Feierlich gekleidete Gemeindemitglieder tanzen auf der Bühne. Pastor Marcos Gladstone Canuto steht an einem schlichten Rednerpult und singt mit. Die Stimmung wirkt wie in so vielen anderen evangelikalen Kirchen in Brasilien - aber es gibt einen Unterschied: Viele der Gläubigen, die von der Gospelmusik beschwingt auf den Stühlen sitzen, sind Lesben und Schwule. Mehrere Paare halten sich an den Händen, andere umarmen sich. Pastor Canuto ist stolz auf die gute Atmosphäre in seiner Kirche: »Unsere Kirche hat die gleiche Doktrin, die gleiche Vision wie andere evangelische Kirchen auch. Der einzige Unterschied ist, dass wir alle Menschen aufnehmen, ohne Vorurteile.«
Canuto weiß genau, wie es vielen seiner Glaubensgenossen geht. Lesben und Schwule sind in Brasilien zumeist vom christlich-religiösen Leben ausgeschlossen. Nicht unbedingt seitens der Gemeinden, aber doch von den meisten, oft fundamentalistischen Predigern. »Wir wirken der Stigmatisierung entgegen. Wir zeigen, dass Gott alle liebt und alle Menschen ohne Ausnahme aufnimmt. An keiner Stelle wird in der Bibel die Liebe oder Treue zwischen zwei Menschen des gleichen Geschlechts verurteilt. Gerichtet werden dort nur Ehebruch und Promiskuität.« Die »Christliche Zeitgenössische Kirche«, auf Brasilianisch kurz ICC, gilt unter den unzähligen evangelikalen Kirchen Brasiliens als exotisch. Sie richtet sich vor allem an Homosexuelle, die weder in katholischen noch in den immer einflussreicheren Pfingstkirchen willkommen sind.
Aufmerksam und sichtlich gerührt verfolgt Claudio Santos Vitório die Predigt von Pastor Canuto. Es geht um die Geschichte von Jakob, um Vater-Sohn-Beziehungen und das Erstgeburtsrecht. Seit über fünf Jahren besucht der 44-Jährige jede Woche die Kirche im Stadtteil Madureira im Norden der Stadt, fernab der mondänen Strandviertel Copacabana oder Ipanema. Früher ging Vitório in eine andere evangelikale Kirche. Als ihm bewusst wurde, dass er Männer liebt, fingen die Probleme an: »Ich kam mir völlig verloren vor. Wie kann ich schwul sein und gleichzeitig von Gott akzeptiert werden? Wie kann ich meinen Glauben beibehalten, wenn alle sagen, dass Gays nicht willkommen sind?« Früher war er mit einer Frau verheiratet. Der Sonderschullehrer wollte sich neu verlieben und eine Familie gründen. Doch die Gespräche in seiner Gemeinde führten in eine Sackgasse. »Ich wurde kritisiert, ich solle mich verändern, solle nach Gott suchen. Ich geriet in einen tiefen Konflikt. Es war sehr traurig, denn sie sagten, dass Gott mich mit dieser Eigenschaft nicht annehmen werde. Es hieß: Entweder du heiratest heterosexuell oder du bleibst im Zölibat.«
Vitório verließ die Kirche. Wenig später lernte er über einen Freund die Igreja Cristã Contemporânea kennen. Nie wird er seinen ersten Tag in der ICC vergessen: »Wenn du hierher kommst, bekommst du als allererstes eine Umarmung. Ich fühlte mich sofort wie eine geliebte, aufgehobene Person«, erinnert sich Vitório. Pastor Canuto weiß, dass die Lebensgeschichte von Vitório kein Einzelfall ist. »90 Prozent unserer Mitglieder waren vorher in anderen evangelikalen Kirchen. Wir nennen diese Menschen ›entkirchlicht‹. Zu uns kommen Leute, die ihre Sexualität nicht so leben konnten wie sie wollten. Also Schwule, Lesben, Transgender.« Aber es seien auch viele Heteros dabei, erklärt Canuto. Darunter auch heterosexuelle Paare, die zu den ICC-Gottesdiensten kommen, weil sie sich dort einfach wohl fühlen.
Pastor Canuto gründete die Kirche vor gut zehn Jahren. Zuvor, während seines Studiums in den USA, erkannte der Theologe, dass Religion und Homosexualität kein Widerspruch sein müssen. »Als ich feststellte, dass ich homosexuell bin und mir dieses vermeintlichen Widerspruchs bewusst wurde, stand ich plötzlich vor einem unlösbaren Problem. Wie sollte ich mich entscheiden? Eine Heterobeziehung eingehen und aufgrund der Weisungen der Kirche so tun, als ob ich jemand anderes sei? Oder die Kirche verlassen?«
Schon damals war Canuto Mitglied einer Pfingstkirche, in der er sich sehr aufgehoben fühlte. »Dennoch entschied ich, die Gemeinde zu verlassen, und spürte schon bald eine große Leere in mir. Ich wollte einfach in einer christlichen, evangelischen Umgebung leben.« In den USA wurde ihm klar, dass es Wege gibt, an diesen Dogmen zu rütteln und Traditionen in Frage zu stellen. »Es war also doch möglich, an Jesus zu glauben und den Herrn zu lieben und zugleich eine homosexuelle Beziehung zu leben«, sagt Canuto mit Nachdruck. Ihn ärgert es, dass die meisten Kirchen dogmatisch sind und sich nicht mit den Anliegen ihrer Gemeindemitglieder beschäftigen. Als er versuchte, in seiner ehemaligen Kirche seine Sexualität zu thematisieren, wurde ihm gesagt, dass es sich um eine Krankheit, um einen spirituellen Schaden handle. Dies müsse geheilt werden, wobei der Erfolg davon abhänge, ob der Gläubige auch wirklich hart darum kämpfe. »So vielen jungen Schwulen wird eingebläut, sie sollten eine Frau heiraten. Aber schlussendlich wird damit ein Problem für alle Beteiligten geschaffen: Die Frauen werden mit uns nicht glücklich und wir nicht mit ihnen«, sagt Canuto. Die Haltung der traditionellen Kirchen führe also nur zu zerbrochenen Familien: »Denn irgendwann verliebst du dich in einen Menschen, der zu dir passt, und die bisherigen Bande werden dann getrennt.«
Die Kirchengründung war nicht einfach, obwohl die Behörden in Brasilien dabei sehr entgegenkommend sind - fast täglich werden in dem größten lateinamerikanischen Land neue Kirchengemeinden gegründet. Am Anfang waren es sehr wenige, die sich für die ICC interessierten. »Der erste spirituelle Moment war ein Gottesdienst mit zwei anderen Gläubigen an einem Strand in Rio de Janeiro«, erinnert sich Pastor Canuto. Bald kamen weitere Neugierige hinzu. Später mietete die wachsende Gemeinde ein Dachgeschoss im Ausgehviertel Lapa an, in das vielleicht 20 Leute hineinpassten. Seitdem kamen die Gläubigen regelmäßig, die Gemeinde wuchs stetig. Im Gemeindehaus in Lapa lernte Canuto auch seinen heutigen Ehemann kennen, Pastor Fabio de Souza.
Inzwischen sind die beiden seit über zehn Jahren zusammen. »Ich sage immer, dass wir vier Mal geheiratet haben, denn bis 2013 waren gleichgeschlechtliche Ehen in Brasilien nicht erlaubt. Also schlossen wir zuerst einen Vertrag, dann eine nicht legale kirchliche Hochzeit, später trugen wir eine eheähnliche Beziehung ein und die wandelten wir dann in eine richtige Ehe um.« Gemeinsam haben sie drei Kinder adoptiert, der älteste ist 14 und die Jüngste zwei Jahre alt. »Familie bedeutet für uns nicht Vater, Mutter, Kind«, sagt Canuto. Eine Familie sei ein Liebesgeflecht, bei dem die Liebe von ganzem Herzen komme. »Meine Kinder tragen nicht meine DNA, aber sie sind in meinem Herzen geboren worden. Das ist für uns wichtig.«
Inzwischen unterhält die Kirche mehrere Gotteshäuser in Rio sowie in São Paulo und Belo Horizonte. Sie versteht sich als Teil der evangelikalen Bewegung, die im größten katholischen Land der Welt rasch wächst. Weit über 20 Prozent der Bevölkerung bezeichnet sich inzwischen als evangelisch, wobei die meisten Anhänger von Pfingstkirchen sind. Die Kirche unterstützt gleichgeschlechtliche Paare, die Kinder adoptieren wollen. Auch Seelsorge sei wichtig, da fast alle in der Gemeinde Erfahrung mit Diskriminierung gemacht haben, sagt Canuto. Manche sogar mit gewalttätigen Übergriffen. Der gemeinsame Gottesdienst ist für sie ein Moment der Entspannung und der Besinnung.
Andere evangelikale Kirchen in Brasilien lehnen Homosexualität rundweg ab. Auch für die Baptistische Kirche ist es nicht mit den christlichen Werten vereinbar, schwul zu sein. Die katholische Kirche steht Homosexualität kritisch gegenüber, will aber niemanden ausschließen. Sie bezeichnet gleichgeschlechtliche Beziehungen als Problem, das von den Betroffenen gelöst werden müsse.
Anfeindungen, gerade seitens anderer Kirchen, gehören für die ICC-Gemeinde zum Alltag. Als sie ihren neuen Sitz im Stadtteil Madureira eröffnete, lag gleich nebenan eine andere evangelikale Kirche, von der Assembleia de Deus. »Deren Anhänger pöbelten manchmal vor unserer Kirche und bewarfen uns mit Knallkörpern. Unsere Fassade wurde besprüht und es gab Drohungen im Internet.« Eine Zeit lang musste sogar ein Sicherheitsdienst beauftragt werden. Nicht wegen der oft gewalttätigen Zustände im Stadtteil, sondern wegen einer Kirche, sagt Canuto kopfschüttelnd. Heute sei es so, dass die meisten Vorurteile gegen Homosexuelle just von christlichen, vor allem evangelikalen, fundamentalistischen Kirchen ausgehen.
Politischen Aktivismus gibt es in der Igreja Cristã Contemporânea kaum. Aber sie steht in engem Kontakt mit Gruppen der LGBT-Bewegung und ist auch jedes Jahr auf der großen Gay-Parade dabei. »Hand in Hand mit unseren Kindern zeigen wir die weniger sichtbare Seite der Szene.« Für Canuto hat die Gemeinde eine politische Haltung, die sich nur anders ausdrückt: »Ein Beispiel: Viele in der LGBT-Bewegung kämpfen für das Recht auf gleichgeschlechtliche Ehen. Und wir? Wir trauen die Paare und veranstalten den Heiratsgottesdienst. Das ist auch Militanz!«
Nach fast drei Stunden geht der Gottesdienst zu Ende. Die Menschen sehen zufrieden aus. Die Stimmung ist ausgelassen, noch lange stehen die Gläubigen in Gruppen zusammen und reden. Pastor Canuto ist etwas erschöpft, er hat fast eine Stunde lang gepredigt.
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