Der unfassbare Genius
Gauthier Dance aus Stuttgart gibt mit »Nijinski« sein Berliner Debüt
Er war der unumschränkte Gott des Tanzes während seiner Jahre bei den Ballets russes und ist bis heute die größte Legende unter den verflossenen Tänzerstars: Vaslav Nijinski. Der Zeit des Triumphes auf internationalen Bühnen folgte das langsame Verdämmern in Sanatorien, geprägt von Versuchen, ihn seiner Schizophrenie zu entreißen. Sie blieb ihm bis zum Tod 1950 mit erst 61 Jahren treu. Da hatte er trotz androgyner Ausstrahlung dem Männertanz technische Bravour verliehen, die Choreografie revolutioniert, ein fortwirkendes Lebensrätsel hinterlassen. Das versuchten viele Tanzschöpfer auf ihre Weise zu lösen, so 1971 Maurice Béjart in Brüssel, 2000 John Neumeier in Hamburg.
Die jüngste Annäherung an den unfassbaren Genius hat Marco Goecke 2016 mit Gauthier Dance in Stuttgart erarbeitet. Sein »Nijinski« beschert, nach internationalen Erfolgen, der von Eric Gauthier 2007 gegründeten Compagnie das lang erwartete Debüt in der Hauptstadt.
Es ist das sanfte Knabenantlitz des russischen Balletteleven Vaslav, das anfangs als Projektion von der Bühne im Haus der Berliner Festspiele herabblickt. Auf hellem Grund, umrahmt von schwarzer Aushängung, breitet Goecke dann gut 75 Minuten seine Vision des Phantoms aus, als das Nijinski uns heute erscheint. Keine chronologische Vita erzählt der vielumworbene Choreograf wie einst John Neumeier. Vielmehr macht er in zehn Szenen jene inneren Spannungszustände sichtbar, die den begnadeten Tänzer am Ende zerreißen und der Welt abhanden kommen lassen. Zwar tauchen überlieferte Gestalten auf, Nijinskis Mutter, Freund Isajef, Diaghilev als Nijinskis Förderer und Liebhaber, Gattin Romola. Sie alle umtaumeln den Star und werden Wegmarken beim Aufstieg und Untergang eines Erwählten.
Goecke lässt die Figuren in seiner typischen Bewegungssprache aufeinandertreffen, fahrig, nervös, getrieben, zuckend. Arme schlagen um sich, Körper verdrehen sich, werden von Impulsen gerissen, die seelische Bedrängnis aus ihnen herausschleudert. Fast schattenlos mattes Licht modelliert die Figuren und ihre Bezüge in maximaler Freiheit von der gewählten Musik, Chopins zwei Klavierkonzerten. Deren Wohlklang begegnen sie gänzlich unsentimental, erhöhen damit nochmals die Spannung, reagieren feinfühlig auf musikalische Akzente. Bisweilen wirkt Goeckes Stück wie ein kubistisches Gemälde, gefügt aus vielen bewegten Splittern.
Dennoch sind Momente der Vita zu erkennen, etwa wie Nijinski in der Schule sein tägliches Training absolviert. Zwei Engel umflattern ihn hektisch, zitieren gar Posen seiner berühmten Rollen, so in den Polowetzer Tänzen. Ob er Junge oder Mädchen sei, flüstert eine Stimme und spielt auf eine überlieferte Episode an. Sexualität erwacht faunhaft mit dem Jugendfreund, den Griff ans Genital einbeschlossen. Keine Form hat Bestand, wie auch Nijinskis Leben unruhevoll war. Das wird ihn am Ende in die Erschöpfung treiben. Bis dahin ist er der Geist der Rose unter knallend fallenden Blütenblättern; der gedemütigte Petruschka; privat der gefeierte, gutverdienende Star, den der Rummel um seine Person ebenso strapaziert wie die zahllosen Auftritte. Mit gellenden Schreien kündigt sich die Krankheit an, die sich in Zeichnungen von Kreisen Linderung verschafft. 1950, wispert da die Stimme, das Finale andeutend.
Was Rosario Guerra im Titelpart an Präzision, Präsenz, Darstellungstiefe einbringt, ist phänomenal. Auch seine 15 Kollegen leisten Außerordentliches in einer Produktion, der man Eingespieltsein im besten Sinn anmerkt.
Weitere Vorstellung am 27.1., 20 Uhr, im Haus der Berliner Festspiele, Schaperstraße 24, Wilmersdorf
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