- Kultur
- Im Kino: »Der seidene Faden«
Besessene mit Kleiderständern
Ein eskalierender Machtkampf: Paul Thomas Andersons Drama »Der seidene Faden«
Hier ist er also nun, der Film zur MeToo-Debatte. Er spielt allerdings nicht in unserer, sondern in einer längst vergangenen Zeit: einer Zeit, als das Etikett des Herstellers eines Kleidungsstücks noch per Hand in dieses eingenäht wurde, einer Zeit, in der es, sofern man ein Mann war, ausreichte, einer Frau tief und bestimmt in die Augen zu sehen, wenn man mit ihr ausgehen wollte, und die Frau als Antwort dem charmanten Mann einen bewundernden Blick zuwarf bzw. bewundernd zu ihm aufschaute, in einem schönen, hübsch ausstaffierten 50er-Jahre-Puppenstuben-London, in dem in bürgerlichen Häusern den Gästen noch Tee aus Silberkännchen gereicht wurde und das überall im Bildhintergrund verschwenderisch verteilte Interieur der Zimmer auf Wohlstand und exquisiten Geschmack hindeutet.
Reynolds Woodcock, ein Junggeselle Mitte fünfzig von der Sorte größenwahnsinniger gealterter Dandy, ist ein solcher Mann. Er ist Schneider, und zwar nicht irgendeiner, sondern wohlgemerkt der, zu dem Millionärinnen und Thronfolgerinnen kommen, wenn sie ein Hochzeitskleid gefertigt haben möchten. Er selbst trägt logischerweise den ganzen Film über entsprechend elegant gemusterte Seidenhalstücher oder Fliegen zu den edlen wechselnden Maßanzügen, die er anhat und die allesamt so wirken, als sei er bereits in ihnen zur Welt gekommen.
Doch ist Woodcock, der in einer symbiotischen Familien- und Arbeitsbeziehung mit seiner ebenfalls unverheirateten Schwester Cyril lebt, die kaum weniger obsessiv ist als er selbst, nicht nur Schneider, er ist vor allem ein Künstler. Ein Kleid ist nicht einfach nur ein Kleid, es ist ein großes Kunstwerk, ein durch nichts anderes ersetzbares Unikat, das den Menschen ausmacht, das jene Person repräsentiert, für die das Kleidungsstück in wochenlanger Arbeit geschaffen wurde, die es am Körper hat.
Woodcock, der jeden unbefugt in seine aus Formstrenge und dem geheiligten Schönen bestehende Welt eindringenden Misston als feindselige Störung betrachtet, ist, wie ein später Nachfahre der überempfindsamen, vom Formschönen und vom Detail besessenen Künstler des Fin de Siècle, auch Neurastheniker: Sein Geist gehört ganz seiner Arbeit, seiner Bestimmung. Und wenn beim Frühstück das nervtötende Gegenüber für den Bruchteil einer Sekunde zu lang mit dem Teelöffel in der Tasse klappert oder mit dem Messer Kratzgeräusche auf seinem Toast macht, muss es eliminiert werden.
Ja, er ist streng, nicht nur anderen, sondern vor allem sich selbst gegenüber. Und er hat immer recht. Zeitverschwendung hasst er, und seine Arbeit, die weit mehr ist als eine Arbeit, nämlich eine Berufung, liebt der Kontrollfreak wie nichts anderes auf der Welt. Eine Locke seiner verstorbenen Mutter, die ihm das Schneiderhandwerk beigebracht hat, als er noch ein kleiner Junge war, trägt er immer bei sich, eingenäht ins Innenfutter seines Jacketts.
Sie machen sich ein Bild: Wir haben es hier mit einem Obsessiven zu tun, einem von sich selbst und seiner Leidenschaft besessenen Perfektionisten und Workaholic, der das makellose Kunstwerk aus feinsten Textilien, das er für einen Menschen in dessen Auftrag schafft, weit mehr liebt als den mangelhaften Menschen, der darin steckt wie die taube Nuss in der vollkommenen Schale. Die Perfektion im Stil, in der Form ist dabei alles. Die sich an den Grillen und Launen der Menschen orientierenden Moden hingegen wechseln beständig, Mode ist nichts: »Den Erfinder des Wortes ›schick‹ sollte man öffentlich auspeitschen.«
Als Woodcock die junge Kellnerin Alma kennenlernt und sie - dem eingangs beschriebenen Szenario folgend - mit zu sich nach Hause nimmt, führt er sie selbstverständlich nicht etwa in sein Bett, sondern in sein Schneideratelier, um ihre Maße zu nehmen und den richtigen Stoff für ein Kleid für sie auszuwählen.
Er, mit dem fanatischen Blick des Künstlers, der ein neues Werk erschafft, die Stecknadeln in der Hand wie der Maler den Pinsel und dabei die Frau begutachend wie die Leinwand: »Sie haben keine Brüste.« - »Ich weiß.« - »Das ist perfekt. Es ist meine Aufgabe, ihnen welche zu geben. Wenn ich das will.«
Der Künstler als Schöpfergott, als narzisstischer Fanatiker, der sich seine Welt erschafft, wie sie zu sein hat. Als Alma ihn unmittelbar nach dem Kennenlernen fragt, ob er denn verheiratet sei, gibt Woodcock ihr die einzig denkbare Antwort auf eine so groteske Frage: »Ich mache Kleider.«
Doch Alma zieht zu ihm und seiner Schwester und findet Aufnahme in die kleine Gruppe Schneiderinnen und Näherinnen, die im House of Woodcock arbeiten.
Spätestens jetzt ist klar, welche Art eigentümliche Liebesbeziehung hier keimt: ein mal unsichtbarer, stummer, nur an den jeweiligen Physiognomien abzulesender, mal heftig eskalierender Machtkampf zwischen einem missgelaunten Künstlerdiktator, einem Tyrann und Ekelpaket, für den Frauen nicht viel mehr sind als perfekte Kleiderständer, und einer Kellnerin/Näherin, die sich nicht zufriedengibt mit der ihr zugedachten Rolle des schönen Kleidinhalts und der Dienstleisterin.
Der US-amerikanische Ausnahmefilmemacher Paul Thomas Anderson, der sich dem herrschenden Kino der Erbaulichkeit und dessen glatter, widerspruchsfreier Figurenzeichnung schon immer widersetzt, vereine in seinem Werk »die Grandezza klassischer Hollywoodfilme mit den formalen Innovationen des europäischen Autorenkinos«, so hieß es vor einigen Jahren treffend in der Zeitschrift »Rolling Stone« über ihn.
Wenn man etwa sein an Robert Altman geschultes, kunstvoll aus verschiedenen Einzelepisoden zusammenmontiertes, bildgewaltiges gesellschaftskritisches Drama »Magnolia« (1999), seine Hommage an das Golden Age of Porn (»Boogie Nights«, 1997) oder die in leuchtenden Bildern erzählte eigenwillige Liebesgeschichte »Punch-Drunk Love« (2002) gesehen hat, weiß man, warum der Regisseur das US-amerikanische Kino der Gegenwart repräsentiert, wie dies - auf ihre jeweilige Art - auch Scorsese (immer noch), Tarantino oder die Coen-Brüder tun, die allesamt jeweils zu einer eigenen, aus der filmhistorischen Vergangenheit schöpfenden, rasch wiedererkennbaren Bildsprache gefunden haben, ohne dass ihre Filme diese nur reproduzieren.
Und wer die Filme Andersons kennt, weiß auch, dass er fast nur mit Ausnahmeschauspielern arbeitet: Die Rolle des fanatischen, ganz für sein Werk lebenden Künstlers hat Daniel Day-Lewis übernommen, der für diesen Film extra gelernt haben soll, wie man Kleider näht, und der angekündigt hatte, dass dies seine letzte Filmrolle überhaupt sein werde.
»Der seidene Faden«, USA 2017. Regie: Paul Thomas Anderson, Darsteller: Daniel Day-Lewis, Vicky Krieps, Lesley Manville, 131 Min.
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